Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Die Geistlichen kommen nicht so gut weg in der Bibel. Ganz besonders gilt das für eine der bekanntesten Geschichten der Bibel, die vom barmherzigen Samariter.
Vielleicht kennen sie sie: Ein Priester und ein Tempeldiener sind unterwegs von Jerusalem nach Jericho (Lk. 10, 25-37). Da stoßen sie auf einen Schwerverletzten. Räuber hatten ihn schlimm zugerichtet. Aber zuerst der eine und dann der andere gehen vorbei: Wir haben Wichtigeres zu tun, sagen sie sich wahrscheinlich. Oder anderes im Kopf. Wir haben Angst, uns auf diese dunkle Seite des Lebens einzulassen. Wer weiß, wohin das führt? Vielleicht nehmen wir die Beobachtung in die nächste Predigt auf. Die könnte dann von den sozialen Missständen im Land handeln oder von der Kriminalität, die sie hervorbringt.
So bleibt der Verletzte auf der Straße liegen, bis schließlich ein Samaritaner vorbei kommt. Ein Ausländer also. Der kann sich vorstellen, wie der Überfallene sich fühlt. Der bekommt Mitleid. Der begreift, was der arme Mann braucht. Er lädt ihn auf seinen Esel, bringt ihn in die nächste Raststätte und lässt Geld da, damit man sich dort weiter um ihn kümmert.
Mir scheint: Wir Geistlichen kommen in dieser Geschichte schlecht weg, weil wir manchmal zu sehr mit unserer Berufswelt beschäftigt sind. Mit den Heiligen Schriften, mit unseren Gottesdienstordnungen, mit unseren Diskussionen über Moral und unseren theologischen Streitigkeiten. Das ist unsere Welt. Da klären wir die Fragen und wissen die Regeln. Aber dass die Religion dem Leben nützen soll - das verlieren wir aus den Augen. Dass der Glaube den Alltag der Menschen besser machen soll - das übersehen wir. Ich glaube, das geht nicht nur manchen Amtsträgern so. Wer für seinen Glauben lebt, der muss aufpassen, dass er die Welt nicht aus dem Auge verliert.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich sollen sich Geistliche - wie alle anderen Glaubenden - an der Heiligen Schrift orientieren und in den Gottesdiensten finden Sie Kraft und Ermutigung für ihren Alltag. Aber genau diesen Alltag darf man darüber nicht aus dem Blick verlieren. Der Glaube ist nicht etwas nur für die Sonntage. Glaubende leben mitten in der Welt und sind verantwortlich auch für die Bereiche der Welt, wo man nicht glaubt. Nicht mehr. Oder vielleicht noch nicht. Wie man beten soll, das steht in der Bibel; aber wo man was tun kann und was man beten soll, das steht in der Zeitung. Oder man findet es, wenn man die Menschen nicht übersieht, die einem begegnen.
Mir scheint, das gilt für Amtsträger - aber für alle anderen Glaubenden auch.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9939
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