SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Im Dezember sah ich im Hessischen Fernsehen eine Reportage, die mich ziemlich entsetzte. Ein Journalist führte unter Besuchern  eines großen Weihnachtsmarktes eine  Befragung durch, das klang etwa so:  "Wissen Sie eigentlich, wie das Kind in der Krippe heißt?"  Verlegenes Lächeln, Stottern. "Nö, das kann ich jetzt nicht so direkt sagen. Tut mir leid!" - "Wie hieß denn der Vater von Jesus?" Die beiden jungen Damen, die jetzt dran waren,  kicherten. " Mmh, vielleicht Mose?  Nee?  Da haben Sie uns auf dem falschen Fuß erwischt. " -  "Wann ungefähr hat denn Jesus gelebt?" Junger Mann und Partnerin gucken sich an. "Weißt du's?" "Ich glaub, im Mittelalter. Oder war's das 16. Jahrhundert?"  Es waren nicht nur diese Einzelnen, sondern nach Auskunft des Reporters eine erhebliche Anzahl von Passanten, die auch nicht annähernd  die richtige Antwort wussten. Der Befund gibt zu denken. Haben die Befragten wohl jemals eine Bibel in der Hand gehabt? Ja, die Bibel: Für viele Menschen ist sie die große Unbekannte, ein altertümliches Buch voll fremdartiger, unglaubwürdiger  Geschichten, insgesamt überholt, allenfalls noch zum Zitieren bei Todesanzeigen. Denigen, die das Wort "Bibel" prägten, sahen das ganz anders, denn "Bibel" heißt übersetzt  einfach "Buch". Der Titel meint also: Dies ist d a s  Buch schlechthin. Darin geht es um das, was für Juden und Christen von zentraler Bedeutung ist: um die Beziehungen zwischen Mensch und Gott. Vielleicht haben Sie eine Bibel zu Hause - womöglich ein dicker Wälzer. Wenn Sie das Inhaltsverzeichnis betrachten, entdecken Sie  Textgruppen, die man deutlich voneinander unterscheiden kann. Da sind die vielen Geschichten, die etwas erzählen: Ereignisse aus der Geschichte des Volkes Israel, dann die Evangelien, die von Jesus Christus   berichten, dann auch Vorkommnisse in den ersten Christengemeinden. Wenn Sie Sinn für Poesie haben, hat die Bibel viel zu bieten: vor allem die Psalmen, ein Schatz von Gebeten und Liedern für alle Lebenslagen. Sie können staunen über das Hohelied, eine Sammlung hoch erotischer Liebeslieder,  oder über die Weisheitsbücher, aus denen das bekannte Sprichwort stammt: "Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein" (Buch der Sprüche 26,27). Eine eigene Abteilung bilden die Bücher der Propheten,  großartige Gestalten aus dramatischer Zeit. Die Bibel ist ein Sammelwerk von zahlreichen Schriften, geschrieben von den verschiedensten Verfassern. Kein Wunder also und kein Grund zur Beunruhigung, wenn uns so manches darin  befremdet: Schließlich haben rund 1000 Jahre daran geschrieben! Und doch ist die Bibel jung geblieben und  gehört zu den meist gelesenen und übersetzten Büchern der Welt - ein echtes Phänomen! In den "Sonntagsgedanken" geht es um die Bibel, das Buch, das Juden und Christen heilig ist und nicht zuletzt im Koran seine Spuren hinterlassen hat. Die Bibel ist mehr als nur ein ehrwürdiges Kulturgut. Bis auf den heutigen Tag schöpfen Menschen daraus Orientierung und Kraft für ihr Leben, weil sie von dem redet, was letztlich zählt. Januar 1945 in Berlin: Helmut Graf von Moltke, ein Gegner des Hitler-Regimes, steht nach einem Jahr zermürbender Haft vor Gericht. Roland Freisler, berüchtigter Präsident des Volksgerichtshofs, schäumt vor Wut, seine Stimme überschlägt sich, denn er hat den Angeklagten gleich  richtig eingeschätzt. "Von der ganzen Bande", schreibt Moltke seiner Frau später, "hat nur Freisler mich erkannt, und er ist auch der einzige, der weiß, weswegen er mich umbringen muss." Der Prozess ist eine Farce, denn das Todesurteil steht von vornherein fest. Moltke aber ist auch nach der Urteilsverkündung von einer unfassbaren Ruhe, ein Bibelwort ist ihm ganz nahe: "...ich bin so voll Dank", schreibt er,   " "eigentlich ist für nichts anderes Platz. (...)...  der ganze Saal hätte brüllen können wie der Herr Freisler, und sämtliche Wände hätten wackeln können, und es hätte mir gar nichts gemacht; es war wahrlich so, wie es in Jesaja 43,2 heißt: Denn so du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht sollen ersäufen; und so du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen. - Nämlich Deine Seele." Für mich sind solche Aussagen eine starke Ermutigung, an die Wirklichkeit   und Nähe Gottes zu glauben, denn in der Todeszelle des Grafen Moltke ist kein Platz mehr für Illusionen und Wunschträume. Manchmal "müssen" wir wohl erst an Grenzen kommen, um zu ahnen, dass das Hier und Jetzt nicht die volle Wirklichkeit  sein kann.                                                                                              

 Die Bibel lädt uns ein, ja, sie wartet sozusagen darauf, dass wir ihren reichen Schatz entdecken. Die folgenden Verse schildern diese  Haltung nicht ohne ein Lächeln:  

Manchmal schweigt sie tagelang
und plötzlich kommt ein Satz, der mich trifft.
Hat sie dabei zu mir hingeschaut? (...)
Sie ist so eigensinnig, aber voller Charme. (...)
Sie hat ein Gesicht,  das man so schnell nicht vergisst.
Die vielen Falten erzählen ihre Geschichte.
Mag sie auch alt sein, sie denkt modern. (...)
Sie kennt Gott und die Welt.
Wie ein Wasserfall kann sie reden.
Nicht immer mag ich zuhören. (...)
Aber sie hat auch Geduld mit mir -
und immer Zeit. (...)
Sie ist eine ganz Besondere.

 - Zitate von Moltke aus:  Du hast mich heimgesucht bei Nacht. Abschiedsbriefe und  Aufzeichnungen des Widerstandes 1933-1945. Hgg. von H. Gollwitzer u.a. 7. Aufl.,  Gütersloh 1985. (S. 87.88.84) 

- "Das Gedicht, aus dem die Verse stammen, ist überschrieben mit: "Sie ist wie sie ist" 
  und stammt von   Egbert Ballhorn. In:  Bibel heute. Nr. 162/2005, S. 12.13)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9875
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