Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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(Lk 17,33)
Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen. Obwohl es draußen kalt war und viel Schnee lag, ist er angekommen wie immer. Barfuß in Sandalen, mit einem leichten schwarzen Mantel über seiner hellbraunen, knöchellangen Kutte, die weißen Haare und seinen langen Bart dicht und gepflegt, mit zwei kleinen Taschen in der Hand - das war sein ganzes Gepäck. Wach und neugierig, offen und freundlich, auch wenn er fremde Menschen trifft, interessiert an allem, was um ihn herum geschieht, manchmal humorvoll, lustig und voller Ideen wie ein kleiner Junge. Der Mann ist 97Jahre alt. Zähne hat er fast keine mehr, auch kein Gebiss aber er schneidet sich alles so klein, dass er es gut essen kann. Sein fester Wohnsitz sind zwei Wohnwagen in Südwestfrankreich. Dort ist es ihm in den Wintermonaten zu kalt. In dieser Zeit besucht er Freunde, Bekannte und Familienangehörige. Bei uns war er über die Weihnachtsfeiertage. Er reist mit dem Zug. In einem dicken Heft hat er alle Adressen und Telefonnummern gesammelt. Das sei sein Internet sagt er lachend. Dabei wählt er die Telefonnummer der Familie, die er als nächstes besucht. Wie kann ein Mensch so alt werden, einfach zufrieden sein und immer noch gerne leben? Ein Rezept gibt es dafür nicht. Machen kann man es nicht. Leicht ist es auch nicht. Wahrscheinlich ist es auch ein Geschenk des Himmels. Die Biographie des alten Mannes ist vielleicht ein Schlüssel. Sie ist einzigartig wie jede Biographie. Er hat als Soldat den 2. Weltkrieg und dann zwei Jahre Kriegsgefangenschaft überlebt. Danach ist er Priester geworden und war mehr als 50 Jahre Missionar in Afrika, im Kongo und im Tschad. Vieles von dem, was er gerne verwirklicht hätte, ist ihm nicht gelungen. Er hat Hungersnöte überlebt und war mehrmals sterbenskrank. Aber jammern oder klagen höre ich ihn nie. Mehr als einmal war er dem Tod nah. Vielleicht ist das der Grund weshalb er heute so gelassen ist und Vertrauen ausstrahlt. Er hat begriffen, dass er es nicht in der Hand hat ob er lebt oder stirbt. Er verhält sich so, als wäre das Leben ein einziges Geschenk. Der 97jährige lebt ganz gegenwärtig, aufmerksam für das, was ist und was er jetzt erlebt. Er plant und ist doch in jedem Augenblick bereit sich dem zu überlassen, was ihn erwartet.  Für mich ist er das lebendige Beispiel für den schwierigen Satz aus der Bibel: „Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen."  

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