Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Vor wenigen Jahren hat ein Freund, der 20 Jahre älter ist als ich, zu mir gesagt: „Ab jetzt kannst du blind gehen, du bist geführt!" Damals hat mich das getroffen wie ein Blitz. Ich hatte eine schwierige Zeit hinter mir. Und es war lang nicht sichtbar, ob gut ausgehen würde, was ich durchstehen musste. Ich habe Glück gehabt und einmal mehr erlebt, dass mich die Krise nicht zerstört  hat. Ich bin sogar stärker geworden. Seitdem ist mir der Satz von meinem Freund oft eingefallen: „Ab jetzt kannst du blind gehen. Du bist geführt!" Bis vor ein paar Jahren hat sich in mir alles gewehrt, wenn jemand so etwas gesagt hat. Es ist aber auch ein schwieriges Kapitel des Glaubens. Sind wir tatsächlich geführt? Und wenn, wer? Jeder einzelne? Heißt das dann auch, dass Gott weiß, wohin er mich führt? Dann wäre durch ihn alles vorbestimmt? Das kann ich bis heute nicht glauben. Wenn ich mir vorstelle, wie viele Menschen sinnlos und ungerecht leiden. Oder wenn ich daran denke, wie grausam manchmal Menschen miteinander umgehen. Dann wäre ein Gott, der Menschen dahin führt und das vorherbestimmt, auch grausam und ungerecht. „Du bist geführt!" Diese Feststellung hat mich provoziert und gezwungen, mich damit zu beschäftigen. So ist mir bewusst geworden - wenn ich geführt bin, heißt  das noch lange nicht, dass klar ist wohin. Heute stelle ich mir vor, dass es so ist, wie Kinder gerne an der Hand ihrer Eltern oder auch an der Hand eines Lehrers gehen ohne zu wissen, wohin eigentlich. Wenn sie sich geliebt fühlen, vertrauen sie selbstverständlich. Sie sind sicher, dass sie an der Hand des Erwachsenen nicht verloren gehen sondern gut ankommen. „Ab jetzt kannst du blind gehen. Du bist geführt!" Jemand, der mich gut kennt, ist sich sicher - mehr als ich selbst - dass ich immer wieder ins Leben zurückfinde so als hätte mich einer an der Hand.  Dass ich gerne lebe und mich freuen kann trotz aller Schwierigkeiten so als würde mich einer immer wieder dorthin führen wo es hell ist und bunt. Wenn ich mir jetzt Sorgen mache oder wenn ich vor etwas Angst habe, erinnere ich mich manchmal bewusst an den Satz von meinen Freund. Er vertraut, dass ich an einer  guten Hand unterwegs bin. Ich staune, dass mich das tatsächlich erleichtert und dass es mir hilft, selbst vertrauen zu lernen. 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9870
weiterlesen...