Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Ich sitze im Zug und warte, dass er endlich abfährt, da höre ich eine Durchsage: „Meine Damen und Herren, dieser Zug hat wegen Anschlussaufnahme voraussichtlich sechs Minuten Verspätung." Wie bitte? Wegen was? Dann gleich die Wiederholung, und ich spitze die Ohren. Tatsächlich, ich habe mich nicht verhört. Die Deutsche Bahn hat ein neues Wort erfunden, und es hört sich an wie eine Dienstanweisung: Anschlussaufnahme. Ich denke noch diesem seltsamen Wort hinterher, da keuchen die ersten Umsteiger die Unterführung hoch, steigen mit roten Backen ein und lassen sich erschöpft auf den nächsten freien Platz fallen. Jetzt verstehe ich, was dieser neue Begriff bedeutet, und er wird mir sofort viel sympathischer. Er meint einfach: ein Zug wartet auf die Fahrgäste des anderen. Der Frau, die es gerade noch geschafft hat, ist die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Und wenn ich sie so anschaue, bin ich damit einverstanden, dass unser Zug jetzt auch nicht mehr pünktlich ist. Ich muss zum Glück heute nicht umsteigen, da ist es leichter, großzügig zu sein. Anschlussaufnahme. Das Wortungetüm fängt an, mir zu gefallen. Eigentlich gar nicht so blöd: die, die langsamer sind oder später dran, die werden nicht jedes Mal abgehängt oder auf dem Bahnhof stehen gelassen, sondern ‚aufgenommen', damit sie den ‚Anschluss' nicht verlieren. Und sofort fallen mir hundert Situationen ein, wo ich mir das auch wünschen würde. Der verträumte Drittklässler, der immer zu viele Bilder im Kopf hat und einfach ein bisschen mehr Zeit bräuchte, um alles zu sortieren und die Aufgaben zu lösen, ihm täte eine solche Anschlussaufnahme gut. Oder der Kollegin, die aus Angst vor dem Arbeitstempo wie gelähmt ist und schon deshalb in Verzug kommt. Aber auch der Freund, der halt ein bisschen länger braucht, bis er nach dem Streit wieder neu anfangen kann. Und die demente Mutter, die in einer Stunde fünfmal dieselbe Frage stellt. Ich glaube, auch bei Gott gibt es so was wie Anschlussaufnahme. Nur käme da niemand auf die Idee, es so zu nennen. Da sagt man eher: Gnade oder Langmut. Aber das klingt für heutige Ohren ja auch nicht viel verständlicher. Dann vielleicht: Geduld oder langer Atem. Jedenfalls ist Gott bereit zu warten. Und jeder Mensch darf sein eigenes Tempo haben. Und seinen eigenen Weg gehen, auch wenn der länger ist, und wenn unterwegs mal was dazwischen kommt.                                    

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