SWR4 Abendgedanken RP

SWR4 Abendgedanken RP

Tag der unschuldigen Kinder, so heißt der heutige 29. Dezember in der christlichen Tradition. Die Kirchen erinnern an den so genannten „Kindermord in Bethlehem", König Herodes, der wegen der Geburt Jesu alle Neugeborenen umbringen ließ. Und sie erinnern an die vielen Kinder, die bis heute unschuldig leiden müssen.

Teil 1
„Tag der Unschuldigen Kinder" so heißt traditionell der heutige 29.Dezember. Die Zeit zwischen den Jahren ist den Kindern gewidmet. Und der Frage:
Was brauchen Kinder, was brauchen wir Menschen zum guten Leben?
Die Antwort ist klar: wir brauchen in erster Linie gute, bekömmliche Beziehungen. Das soziale Netz der Familie, der Verwandten und Freunde. Auch eine gute, lebendige Beziehung zu Gott. Das alles ist - im eigentlichen Wortsinn - ein „Lebensmittel", ein Mittel zum Leben.
Menschen haben uns am Anfang unseres Lebens willkommen geheißen. Sie haben uns gestreichelt. Sie haben uns beachtet und uns mit und ohne Worte spüren lassen: Ich habe dich lieb. Schön, dass es dich gibt.
Selbstverständlich ist das keineswegs, wenn jemand in liebevoller Beziehung aufwachsen darf.
Bettina Wegner hat ein Lied darüber geschrieben, was es heißt, wenn ein Mensch geboren wird. Was für ein Wunder das ist. Und wie verletzlich dieses Wunder ist

Sind so kleine Hände
winzge Finger dran.
Darf man nie drauf schlagen
die zerbrechen dann.

Sind so kleine Seelen
offen und ganz frei.
Darf man niemals quälen
gehn kaputt dabei.

sieht man fast noch nicht.
Darf man niemals beugen
weil es sonst zerbricht.

Bettina Wegner schließt ihr Lied mit einer Vision und großen Hoffnung:

Grade, klare Menschen
wärn ein schönes Ziel
Leute ohne Rückgrat
hab'n wir schon zuviel.

„Grade, klare Menschen wärn ein schönes Ziel".
Für dieses Ziel sind wir am Anfang des Lebens ausgestattet worden. Unser Rückgrat konnte sich entwickeln, weil Menschen uns gestreichelt haben. Die Welt konnten wir mit wachen Augen und Sinnen entdecken; denn Menschen haben sich für unsere Sicht der Dinge interessiert. Gut waren wir dran: es waren Menschen um uns. Die hatten ihre Freude daran, uns aufrecht und mit Rückgrat gehen zu sehen. Sie haben uns zugetraut, dass wir einen guten Weg im Leben gehen. Wir konnten wachsen und erwachsen werden; denn Menschen haben uns gesagt: du bist wertvoll. Wir haben dich lieb, so wie du bist.
Wer immer solche Worte gehört hat, sie tief in sich aufgenommen hat, der konnte mit Rückgrat und aufrecht durchs Leben gehen.
Und wer ein Rückgrat hat, der kann auch zu seiner Verantwortung stehen, statt andere oder die Lebensumstände haftbar zu machen. Wer ein Rückgrat hat, kann aussprechen, wo er oder sie schuldig geworden ist und worin. Wer sich angenommen und geliebt weiß, kann zu all dem Schwierigen und Schlimmen stehen, das ihm widerfährt. Weil er weiß, dass er damit nicht steht und fällt.

Teil 2
„Grade, klare Menschen wärn ein schönes Ziel". So viele Kinder und Jugendliche hatten dieses Glück nicht. Durch die Medien haben wir von dem Leid jener 800 000 Kinder und Jugendlichen gehört, die zwischen 1949 und 1975 in westdeutschen Kinder- und Jugendheimen aufgewachsen sind.
Bei vielen von ihnen war der Heimalltag geprägt von Züchtigungen, sexuellem Missbrauch, Arrest, Demütigung, Essensentzug, religiösem Zwang, von Kontaktsperren und Briefzensur. Diesen jungen Menschen hat man - im bildlichen Sinn - das Rückgrat gebrochen. Sie waren Opfer einer so genannten „schwarzen Pädagogik". Den Eigenwillen zu brechen, gehörte auch in manchen kirchlichen Einrichtungen zu den verqueren Vorstellungen eines christlichen Lebensstils.

In evangelischer Trägerschaft waren es zum Beispiel die Erziehungsheime in Freistatt. Die lagen weit draußen im Wietingsmoor bei Diepholz und waren Außenstellen der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel.
In den Fünfziger- und Sechzigerjahren prägten dort die sogenannten Hausväter ihren Häusern einen Leitungsstil auf, der sich an drei sozialen Modellen ausrichtete: Kaserne, Gefängnis und Kloster. Unbedingter Gehorsam, militärischer Drill, drakonische Strafen - das Leiden dieser Heimkinder bleibt ein dunkles Kapitel in der Geschichte evangelischer Einrichtungen.
Wer aber will bei allem berechtigten Zorn den Stab über die damaligen Heimleiter und Erzieher brechen? Die dort das Sagen hatten, waren selber traumatisierte Menschen. Sie haben weitergegeben, was sie selber gelernt, erfahren und erlitten haben.

Die Heimkinder von damals sind in die Jahre gekommen. Ihre kindliche Unschuld haben sie früh verloren. Notgedrungen haben sie gelernt, den Schmerz nach außen hin mehr oder weniger zu überspielen und enttäuschte Hoffnungen klein zu reden.
Jetzt sollen sie wenigstens finanziell entschädigt werden. Das hat ein „Runder Tisch Heimerziehung" vorgeschlagen. Gut so. Aber Seelen können nicht durch finanzielle Zuwendung heilen.
Wer gebeugt und mit verkümmertem Rückgrat, aber mit einer großen Hoffnung und Sehnsucht durchs Leben geht, der möchte wieder Worte hören können, die das Gute in uns benennen; Worte wie: ich glaube, dass du eine Bereicherung bist für andere, mit deinen Begabungen und deiner Art, so wie du bist. Du bist sehr verletzt worden, aber du bist auch ein Mensch, der sich sehr gut in andere, die verletzt wurden, einfühlen und ihnen dadurch helfen kann. Und deshalb bist du wichtig, auch mit deiner schlimmen Vergangenheit. Du bist ein Segen, und es ist ein Segen, dass es dich gibt.

Teil 3
Seinen Namen hat er im Gedenken an den Kindermord in Bethlehem. Der Evangelist Matthäus berichtet davon im Zusammenhang mit Jesu Geburt. Damals regierte der König Herodes. Er fürchtete dieses neu geborene Kind Jesus, weil er meinte, er wolle König werden und ihm seine Macht wegnehmen. Deshalb hat er alle neugeborenen Jungen bis zu einem bestimmten Alter umbringen lassen. In der Hoffnung, dass damit auch das Jesuskind erfasst ist. Soweit der Bericht des Evangelisten.
Historisch ist dieser Kindermord allerdings nicht belegt. Wahr aber ist das, woran dieser „Tag der Unschuldigen Kinder" erinnern soll. Er will uns daran erinnern,  wie nah Licht und Finsternis beieinander liegen. Es gibt nicht nur die gute Nachricht: „Euch ist heute der Heiland geboren". Es gibt auch die schlimme Nachricht: Die Geburt des Messias hat ein Massaker zur Folge. Bis in unsere Tage werden Kinder um ihre Kindheit, wenn nicht gar um ihr Leben gebracht. Weil Menschen nicht einmal davor zurückschrecken, Kinder in ihrem Lebenswillen zu brechen oder zu töten, nur um ihren Willen und ihre Macht durchzusetzen.
Der „Tag der Unschuldigen Kinder" erinnert uns daran: Bei dem menschgewordenen Gott kommen das Helle und das Dunkle, kommen Tod und Leben zusammen. Mit dem Kind in der Krippe wird gerade kein „holder Knabe im lockigen Haar" gezeigt, der „in himmlischer Ruh" schlummert. Gott nimmt Menschengestalt an in einem Flüchtlingskind, das gerade noch mit dem Leben davon kommt.
Es gibt Lebensschicksale, die lassen einen fragen: Warum das alles? Warum haben die einen eine glückliche Kindheit und für die andern ist schon das junge Leben Kampf und Demütigung? Warum nur?
In einem alten Weihnachtslied heißt es: „Er ist auf Erden kommen arm, dass er unser sich erbarm". Damit Menschen wieder aufrecht gehen können. Nicht mehr gebeugt unter der Last ihrer Demütigungen. Aber auch nicht mehr unter der Last ihrer Schuld.

Er ist gekommen, dass er sich beider erbarm, der Opfer wie der Täter. Denn beide, die Opfer wie die Täter, brauchen es, erlöst zu werden. Die Opfer brauchen Erlösung, damit sie in ihrem Schmerz und ihrer lang schwelenden Wut nicht verhärten, sondern sich empfänglich halten für gute Begegnungen und bekömmliche Beziehungen.

Und die Täter brauchen Erlösung, damit sie die Verantwortung für ihre Tate übernehmen können.
Als Seelsorger bin ich oft fassungslos über das, was Menschen einander antun können. Doch ich möchte mir die Hoffnung bewahren, die Dietrich Bonhoeffer in folgende Worte gefasst hat:

            Ich glaube, das Gott aus allem, auch aus dem Bösesten,
            Gutes entstehen lassen kann und will.
            Dafür braucht er Menschen,
            die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.

Das war der SWR 4 Blickpunkt, der letzte in diesem Jahr und die letzte Sendung überhaupt. Im neuen Jahr hören Sie uns von Montag bis Freitag immer kurz vor 19 Uhr.
Ich bin Wolfgang Altpeter aus Koblenz von der evangelischen Kirche. Ich wünsche Ihnen einen guten Ausklang des alten Jahres und Gottes Segen zum Neuen Jahr 2011.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9754
weiterlesen...