Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Als sie einander acht Jahre kannten und man darf sagen: sie kannten sich gut, kam ihre Liebe plötzlich abhanden. Wie andern Leuten ein Stock oder Hut."
Das Ende einer Liebe. Mit wenigen Zeilen fängt ein Dichter[1] es ein: Die Liebe ist langsam gestorben. Sie haben sich auseinander gelebt bis sie nur noch neben einander her lebten. Sprachlos bleiben die beiden zurück. „Sie waren traurig, betrugen sich heiter, versuchten Küsse, als ob nichts sei, und sahen sich an und wussten nicht weiter. Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei."
Eine sachliche Romanze nennt Erich Kästner diese Trennungsgeschichte. Sachlich war die Romanze bestimmt nicht, weder am Anfang noch jetzt am Ende. Aber sachlich ist der Blick, den Erich Kästner auf das Paar und seine Trennung wirft. Ein sachlicher Blick, aber doch gleichzeitig mitleidig.
Ich finde, das kann man schon von Jesus lernen: Zu seiner Zeit trieben die scheinbar unbeteiligten Dritten eine Ehebrecherin durchs Dorf. Den Eltern, Nachbarn, Freunden war der sachliche, mitleidige Blick abhanden gekommen. Sie verdammten, sie verurteilten. Für sie stand fest: Die Ehebrecherin war schuldig. Nun sollte sie bestraft werden.
Ein sachliches Wort hat sie davor bewahrt. Ein Wort, das zur Distanz verhalf und gleichzeitig zum Mitleid aufrief: „Wer von euch ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein", hat Jesus damals gesagt. Ein sachliches und mitleidiges Wort, das auch uns leiten kann - bei allen Urteilen, die wir abgeben sollen.
Denn Urteile werden ständig von uns erwartet - auch, wenn zwei Menschen sich trennen. Mir ist das bei guten Freunden schon so gegangen. Auf der Hochzeit getanzt und dann nach ein paar Jahren alles am Ende. Und dann wird misstrauisch geschaut: Zu wem hält sie? Wer - glaubt sie - hat sich falsch verhalten, wer hat Schuld am Scheitern der Beziehung?
Mit einem Urteil tun wir keinem einen Gefallen. Besser wäre es, die Wut, den Ärger geduldig anzuhören und dann sachlich und mitleidig nach den Gefühlen hinter den Verletzungen zu fragen. Vielleicht so: „Es tut weh, wenn der Traum einer lebenslangen Liebe scheitert" oder „Du hast ihn einmal geliebt".
Es ist schwer sachlich zu bleiben, wenn Menschen sich trennen, die uns nahe stehen. Aber gerade diese Gratwanderung müssen wir wagen, wenn wir ihnen helfen wollen. Ihre Verletzungen, ihre Zweifel und ihre Streitpunkte brauchen den sachlichen Blick von außen und sie brauchen mein Mitleid - beide. Mein Mitleid, das für sie und mit ihnen das Ende ihrer Beziehung betrauert.


 

Erich Kästner, Sachliche Romanze (www.anthologie.de/006.htm)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9572
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