Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Marco hat heute nichts vom Nikolaus bekommen. Seit einem Jahr verkündet seine Mutter ihm, dass der Nikolaus nur zu lieben Kindern kommt. Und weil diese indirekte Drohung das ganze Jahre über nicht gefruchtet hat, hat sie ihren Worten heute Taten folgen und ihren Sohn vor leeren Schuhen stehen lassen.
Gut finde ich diese Art der Pädagogik nicht und ob Marco eine Lehre daraus zieht, wage ich zu bezweifeln. Ein bisschen mehr Konsequenz bei der Erziehung hätte meiner Meinung nach mehr Wirkung als die Drohung mit dem strengen Nikolaus. Immerhin muss Marco nicht noch einen Besuch vom Nikolaus mitsamt Knecht Ruprecht über sich ergehen lassen. Ich musste als Kind solch ein Spektakel einmal miterleben - und auch wenn mein Cousin ausgeschimpft wurde und nicht ich, hatte ich danach jahrelang Angst vor dem Nikolaus.
Heute weiß ich, dass das Bild vom strafenden Bischof mit dem eigentlichen Nikolaus nichts zu tun hat. Der Bischof von Myra war nämlich ein Freund der Kinder. Ein Fürsprecher und Helfer, der sie gegen die Erwachsenenwelt in Schutz nahm.
Dass wir heute am Nikolaustag den Kindern kleine Geschenke in die Schuhe stecken, kommt nicht etwa daher, dass Nikolaus alle Kindern seiner Heimatstadt Myra beschenkt hätte, sondern weil er mit seinen Gaben drei halbwüchsige Mädchen beschützt hat. Der Vater der Mädchen war nämlich plötzlich verarmt und konnte seine Familie nicht mehr ernähren. Die Zukunft der Töchter war dahin. Ohne das nötige Geld für die Mitgift konnten sie nicht heiraten und es war klar: sie würden sich als Prostituierte verkaufen müssen, um ihre Familie durchzubringen. Als Nikolaus durch Zufall davon erfuhr, warf er in drei Nächten je drei Säckchen mit Gold durch das Fenster - genug Geld, um die Schulden des Vaters zu begleichen und die Mädchen vor der Zwangsprostitution zu bewahren.
Nikolaus - der Freund und Helfer der Kinder. Was würde er wohl tun, wenn er heute leben würde? Als schimpfender Erziehungshelfer würde er sich bestimmt nicht hergeben. Als Fürsprecher der Kinder würde er eher uns Erwachsenen eine Standpauke halten, dass wir immer noch nicht genug getan haben gegen Zwangsprostitution, Kinderarmut und die sozialen Missstände auf der Welt. Nikolaus - der Fürsprecher der Kinder und Kämpfer für Gerechtigkeit - darin ist dieser Kirchenmann auch für mich heute ein Vorbild.

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