Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Worüber könnt Ihr Euch freuen, wofür seid Ihr dankbar?", das habe ich meine Fünftklässler neulich gefragt. Sie sollten Bilder malen, auf denen zu sehen ist, worüber sie sich freuen. Und sie haben ganz eifrig losgelegt: Mama und Papa, jede Menge Haustiere und das Vereinswappen vom VfB waren da zu sehen. „Dürfen wir auch was schreiben?", hat mich ein Mädchen gefragt. „Wieso?" hab ich zurückgefragt. „Ich bin für mein Leben dankbar, und das kann ich nicht malen", hat sie geantwortet.
Klar durfte sie das schreiben, und ich bin ein Bisschen ins Grübeln gekommen: Wie ist das bei mir? Freue ich mich einfach so über mein Leben? Einfach darüber, dass es mich gibt? Oder sehe ich eher das, was an mir verbesserungsfähig ist? In der Regel freue ich mich über mich selbst nur dann, wenn ich was Besonderes geleistet habe oder von anderen gelobt werde. Meine Schülerin hat mich daran erinnert, dass das Leben an sich schon eine tolle Sache ist und ich mir das ruhig öfter mal sagen könnte.
Wie der Schriftsteller Matthias Claudius. Der hat ein Gedicht über die Freude, da zu sein geschrieben. Da heißt es in der ersten Strophe: „Ich danke Gott und freue mich / wie's Kind zur Weihnachtsgabe, / dass ich bin, bin! und dass ich dich, / schön menschlich Antlitz habe."
Rund zweihundert Jahre später hat ein Liedermacher was ganz anderes gedichtet: „Montag morgen, ich seh im Spiegel mein Gesicht, / ich seh schnell wieder weg, diesScheusal kenn ich nicht". Zugegeben, das ist nicht ganz ernst gemeint. Trotzdem: vielen Menschen spricht dieser Schrecken eher aus dem Herzen als das Gedicht von Matthias Claudius.
Auch der hat aber anscheinend gewusst, dass uns Menschen die Freude über uns selbst schwer fällt. Deshalb hat er seinem Gedicht die Überschrift gegeben: „Täglich zu singen". Ich muss mir das schon immer wieder sagen. Vielleicht indem ich die Zeilen von Matthias Claudius auswendig lerne. Auch mit schlechtem Gedächtnis müsste das drin sein. Und wenn nicht, schreib ich mir den Vers auf einen Zettel und häng ihn an den Spiegel. Sozusagen als Bildunterschrift unter mein morgendliches Spiegelbild: „Ich danke Gott und freue mich / wie's Kind zur Weihnachtsgabe, / dass ich bin, bin! und dass ich dich, / schön menschlich Antlitz habe."

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