Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Gäbe es nicht die ‚letzte Minute', so würde nie etwas fertig". Diese Einsicht stammt von einem meiner Lieblings-Sprüchemacher, von Mark Twain. Mir ist schon klar, dass er damit übertreibt. Und alle Menschen die gut planen sagen, dass sie ihre Sachen sehr wohl vor der letzten Minute gebacken bekommen. Aber ich kenne genügend Leute, die fast nur auf den letzten Drücker arbeiten können. Sie brauchen den Druck, der sie anschiebt, der sie erst richtig auf Betriebstemperatur bringt. Sie können nicht irgendwas für irgendwann später tun. Sie brauchen diese komprimierte Arbeitsphase, die nur durch einen Akt beendet wird: den Abgabetermin, die Lieferung oder die Präsentation. Wer nur so arbeiten kann, sich dessen auch bewusst ist und ohne allzu viel Stress damit umgehen kann, der kriegt auch was zustande. Und durch den Druck auch was Gutes zustande. Und auch bei lang geplanten Projekten ist es wichtig irgendwann zu Potte zu kommen, zum Punkt, an dem sie abgeschlossen werden. Denn es gibt auch Projekte, die nie fertig werden, weil es eben keine letzte Minute gibt. Wer aber nicht anders kann als die Dinge auf den letzten Drücker zu erledigen und darunter leidet oder wer von anderen direkt oder indirekt dazu gezwungen wird, der hat ein Problem. Ein Problem, das ihn oder sie auf Dauer krank macht. Denn die dauernde Hetze, der dauernde Druck schleichen sich in die Seele. Und als Dauerzustand machen sie krank. Krank an Leib oder Seele oder an beidem. Denn Leib und Seele brauchen auch die Ruhe, das ruhige Arbeiten, das befriedigt und Kreativität freisetzt. Der letzte Drücker trägt aber noch eine andere Gefahr in sich: Dass diese Arbeitsweise zur Lebensweise wird. Und man - bewusst oder unbewusst - das Leben auf das Lebensende verschiebt. Aber das klappt meistens nicht. Denn man kann vielleicht auf den letzten Drücker arbeiten, leben aber nicht.

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