Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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In Russland erzählt man sich die Geschichte von einem Bauern, der hatte ein Pferd. Eines Tages entlief ihm dieses sein einziges Pferd in die Berge. Die anderen Bauern kamen und bedauerten ihn wegen seines Pechs. Er aber sagte nur: Glück? Pech? Wer weiß? Da kam dieses Pferd irgendwann zu dem Bauern zurück und brachte gleich noch eine ganze Herde von Wildpferden mit. Die anderen gratulierten ihm zu seinem Glück. Er aber sagte nur: Glück? Pech? Wer weiß?
Dann hatte eines Tages sein einziger Sohn beim Zureiten eines der Wildpferde einen Unfall und brach sich ein Bein. Wieder kamen die anderen und bedauerten ihn wegen seines Pechs. Er aber sagte nur: Glück? Pech? Wer weiß?
Ein Krieg brach aus. In allen Dörfern des Landes wurden die jungen Männer als Soldaten rekrutiert. Die Beamten des Zaren kamen natürlich auch in sein Dorf und zogen die Söhne der Nachbarn ein. Aber wegen des gebrochenen Beins nahmen sie seinen Sohn nicht mit. Und wieder kamen die anderen, um ihm wegen seines Glücks zu gratulieren. Er aber sagte nur: Glück? Pech? Wer weiß? 
Vielleicht geht die Geschichte noch weiter, aber mehr ist gar nicht nötig, wir haben schon verstanden. Und jeder könnte Beispiele dazulegen, die die Lebenserfahrung der russischen Bauern bestätigen. Nicht alle sind so dramatisch wie das verpasste Flugzeug das dann abgestürzt ist. Und nicht alle so romantisch wie die verlorene Brieftasche, ohne die man keine Chance gehabt hätte, auf dem Fundbüro die Frau fürs Leben zu finden.
Dass in jedem Unglück auch immer ein Stückchen Glück liegt, mag sicher stimmen. Aber Vorsicht, es kann auch billig klingen. Wenn ich großen Kummer habe, lasse ich mir das von niemandem sagen, das sei sicher auch für irgendwas gut. Und würde erst recht nicht wagen, jemand, der mit einem Unglück leben muss, damit abzufertigen. Denn was als Trost gemeint ist, klingt leicht so, wie wenn man sich das Unglück anderer vom Hals halten wollte.
Was in meinem eigenen Leben Glück ist und was Pech, das kann mir niemand sagen. Oft wächst es lange unter der Oberfläche des Bewussten, unter Trauer und ganz widersprüchlichen Gefühlen. Aber manchmal kommt dann ein Punkt, an dem ich spüre: Das Schwere in meinem Leben war nicht nur Pech und das Schöne nicht nur Glück. Aber beides hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin...

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