Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Wenn ich in eine Kirche komme, dauert es meist nicht lange und ich stehe vor dem Kerzenstock, vor einer Nische, in der alle, die in die Kirche kommen, eine Kerze anzünden können. Eine Kerze als persönliches Zeichen, für ein Gebet, für eine Bitte, für einen stummen Seufzer, für einen Menschen, der mir besonders am Herzen liegt. Es ist eine einfache und sinnliche Art von Frömmigkeit. So wie wir Menschen nun mal gemacht sind, glauben wir eben nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen und mit allen Sinnen. Und dabei brauchen wir auch Zeichen, die sichtbar auf das hinweisen, was unsichtbar ist: Gottes Gegenwart. Natürlich kann man das auch missverstehen, fast magisch, so nach dem Muster: je mehr Kerzen, desto eher wird Gott meine Bitte erhören. Klar, diese Gefahr besteht immer, und man sollte sich selbst auch immer wieder prüfen, ob sich da nicht so was Schräges einschleicht. Aber klar ist auch: Menschen brauchen Zeichen. Um zum Ausdruck zu bringen, was in ihnen vorgeht und was sich vielleicht gar nicht sagen ließe. Da empfinden es viele als eine Einladung, sozusagen im Vorbeigehen eine Kerze anzuzünden und zu wissen: Wenn ich jetzt wieder rausgehe und in meinen Alltag eintauche, dann brennt diese Kerze immer noch. Auch wenn ich nicht mehr daran denke, bleibt ein Teil von mir hier zurück. Und meine Gedanken, meine Gebete, die ich damit verbunden habe, verschwinden nicht irgendwo im Äther. Sie haben einen Ort, wo sie hingehören und wo sie gut aufgehoben sind. Und im Licht dieser Kerze erscheinen mir auch meine Anliegen in einem anderen Licht. 
Ich mach das übrigens so, wenn ich wieder mal vor dem Kerzenstock stehe: Ich nehme eine Kerze und zünde sie an einer anderen an, die schon brennt. Dabei stelle ich mir vor, von wem die wohl angezündet wurde, und bitte für diesen mir unbekannten Menschen. Dann stelle ich mein Kerzchen ab und sage danke. Dabei lasse ich an mir vorbeiziehen, was ich jetzt gerade als schön oder gut oder gelungen empfinde. Dann nehme ich eine zweite, ich nenne sie die Bitte-Kerze, und zünde sie an der ersten an. Die Danke-Kerze gibt der Bitte-Kerze das Feuer - nicht umgekehrt. Wenn ich schon mal danke gesagt habe, sage ich anders bitte, ich werde freier, großzügiger, weniger ängstlich. Seit ich es so mache, muss ich auch nicht mehr versuchen, unzählige einzelne Bitten quasi in dieses Kerzchen hinein zu quetschen. Ich kann vertrauen, dass Gott schon weiß, was ich meine und was ich brauche.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9176
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