Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Lieber Gott,

bis jetzt geht's mit gut heute!
Ich habe noch nicht getratscht,
nicht die Beherrschung verloren,
war noch nicht muffelig, gehässig,
egoistisch und zügellos.
Ich hab noch nicht gejammert,
geklagt, geflucht oder Schokolade gegessen.
Die Kreditkarte hab ich auch noch nicht belastet. 

Aber
in etwa einer Minute
werde ich aus dem Bett klettern
und dann brauche ich wirklich deine Hilfe...  

Ich habe nie rausgekriegt, wem ich dieses Morgengebet verdanke, es geistert ohne Namen durch die Welt. Schade, dass ich seinem Verfasser oder seiner Verfasserin nicht sagen kann, wie gut ich das finde. So witzig und zugleich so tiefsinnig. So verblüffend und so entwaffnend ehrlich.
Die Zeit zwischen dem Signal des Weckers und dem Aufstehen, sie ist kurz. Vorausgesetzt ich schlafe nicht wieder ein, weil ich noch zu müde bin oder weil ich vor den Aufgaben des Tages gleich wieder in den Schlaf flüchte. Und in diesen ein, zwei Minuten muss ich mich erst mal sortieren. Die Traumfetzen, die ich aus der Nacht mitbringe, mischen sich mit dem, was der neue Tag von mir fordert und was ich von ihm erwarte: Die Pflichten, die routinierten Abläufe, Herausforderungen, die neu sind und kreative Lösungen von mir verlangen. Tausend Kleinigkeiten, die ich bis abends schon wieder vergessen habe. Ein Vorsatz vielleicht, heute etwas ganz Bestimmtes zu tun, das ich schon seit Tagen vor mir her schiebe. Oder etwas anderes nicht zu tun, weil ich weiß, dass es mir nicht gut tut oder dass ich damit anderen schade. Was für ein Durcheinander in so einem Kopf, einem Herzen zwischen Tag und Traum.
Um schon vor dem Aufstehen so pfiffig beten zu können wie der unbekannte Zeitgenosse, muss man schon ganz schön wach sein und erheblich fitter als ich es um diese Zeit bin. Und auch mein Sinn für Humor braucht erst mal zwei Tassen Kaffee, damit er's mit dem Tag aufnehmen kann, vorher verstehe ich keinen Spaß. Nur die letzte Zeile dieses Gebets, die könnte auch von mir sein: Ich brauche wirklich deine Hilfe, ich schaff's nicht allein!  oder noch einfacher: Hilf mir, Gott! Das habe ich schon so oft gebetet, dass ich's auch im Halbschlaf, wahrscheinlich sogar im Schlaf könnte. Was heißt könnte: Es ist tatsächlich oft mein erstes Gebet am Tag, und manchmal auch mein letztes.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9175
weiterlesen...