SWR4 Abendgedanken RP

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 - oder: Muss man immer die Wahrheit sagen?

Teil 1
Sie ist mir in Erinnerung geblieben, die Episode mit meiner Tochter: Die Mathe-Arbeit war geschrieben. Nach ein paar Tagen habe ich meine Tochter gefragt: „Na, wie ist deine Arbeit ausgefallen?" Ihre Antwort: „Claudia hat auch ne Fünf".
Ehrlich war die Antwort schon. Claudia hatte tatsächlich eine Fünf in der Arbeit. Allerdings, für einen Vater wie mich war es ziemlich belanglos, welche Note Claudia bekommen hat. Für meine Tochter war es nicht belanglos, dass auch Claudia eine Fünf geschrieben hat. Aus ihrer Sicht stellte sich das Ganze so dar:
Wie bringt man erstens einem Vater einigermaßen schonend bei, dass man die Mathe-Arbeit verhauen hat? Und zweitens: Könnte es nicht den Vater entlasten, wenn er weiß: er ist kei­neswegs der einzige Vater mit einer mathematisch unbegabten Tochter. Da gibt es immerhin noch eine Claudia.
Und schließlich kann man sich mit solch einer Antwort lästige Nachfragen vom Hals halten. Man hat doch geantwortet - auch wenn die Antwort haarscharf an der Frage vorbeizielt. Aber, so ist zu hoffen, der andere merkt es nicht gleich.
 „Claudia hat auch eine Fünf". Ganz schön clever, so eine Antwort. Hinter einer Claudia kann man sich gut verstecken. Vielleicht verlaufen nach diesem Muster deshalb so manche Ge­spräche in der Familie, am Arbeitsplatz und überhaupt dort, wo Menschen miteinander in Be­ziehung treten. „Könntest du mich zum Bahnhof fahren?", fragt der eine. Und der andere sagt nicht einfach „Nein, will ich nicht", sondern meint: „Der Wagen müsste schon lange in die Werkstatt."
Wenn ich mir im Fernsehen Politikerinterviews ansehe, bin ich oft verblüfft, wie geschickt sich die Politiker  um eine verbindliche Antwort „Ja" oder „Nein" herummogelt. Das mag zwar für den Zuschauer ärgerlich sein. Doch was wären die politischen Folgen, wenn einer sich festle­gen würde?
Muss man immer die Wahrheit sagen? Muss man sich immer zu erkennen geben? Den meis­ten von uns ist das so von Kind an eingeschärft worden. Und für den nötigen Nachdruck sorg­te der Hinweis: „Der liebe Gott weiß und sieht alles".
Es gibt  Erwachsene, die spüren die Spätschäden dieser Art von religiöser Erziehung noch heute.
Aber ich möchte doch mal fragen: Ist das wirklich wichtig und nötig, immer und unter allen Umständen die Wahrheit zu sagen? Aber selbstverständlich!, denken Sie vielleicht spontan. Das kann es doch wohl nicht sein, das ist doch keine Haltung, dieses: Nimms mit der Wahr­heit nicht so genau! Lass Fünfe gerade sein! Hauptsache, du kommst dabei gut weg und bist aus dem Schneider. Nein, das kann es  nicht sein. Denn wo­hin solch eine Haltung führt, kön­nen wir jeden Tag in der Zeitung lesen. Wie es aber dann mit der Wahrheit halten?

Teil 2
„Claudia hat auch ne Fünf". So hat sich meine Tochter einmal herausgeredet, als ich Sie nach ihrer Note in der Mathearbeit gefragt habe. „Claudia hat auch ne fünf" d.h. ist doch nicht so schlimm. Ist ganz normal. Nicht nur die Erfahrung mit meiner Tochter und ihrer Mathe-Arbeit, vor allem auch Gespräche mit kranken Menschen haben mich erkennen lassen:

Die Wahrheit sagen - das hat zuerst etwas mit der Beziehung zu tun, in der die Wahrheit an­gesagt oder gefragt ist. Für die Beziehung ist das wichtig, wie man zur Wahrheit steht. Ob man sie ausspricht, oder lieber für sich behält.
Ich denke an die Schwester auf der Intensivstation: „Wenn ich einen Patienten zu pflegen habe", sagt sie, „und der ist bewusstlos und muss beatmet werden, dann gebe ich ihm mit meiner Pflege das Beste, was ich für ihn tun kann.
Die Pflege belastet mich zwar, aber damit umzugehen habe ich gelernt. Doch wenn er eines Tages die Augen aufschlägt, wenn er wieder mühsam die ersten Worte spricht und mich dann eindringlich fragt: 'Schwester, wie sieht es aus mit mir? Wird alles gut werden?' - dann weiß ich darauf keine Antwort, dann erlebe ich mich oft hilflos.
Ich weiß doch: nach menschlichem Ermessen wird es für ihn niemals mehr so sein wie früher. Keine Spritze, kein Instrument, keine Handreichung kann in diesem Augenblick die Antwort ersparen. Er will ja nicht irgendetwas. Er will in mir eine Person haben, die antworten soll. - Was ist dann die Wahrheit?"
Die Ehrlichkeit der Schwester hat mich beeindruckt. Ich habe auch den Arzt erlebt, der meiner Frau und mir bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung nicht nur die Diagnose nannte, son­dern auch schlicht sagte:
 „Manchmal frage ich mich: was wäre, wenn du auf der anderen Seite des Tisches sitzen wür­dest?" Wer sich so befragt, zeigt seinen Respekt vor dem kranken Menschen. Wir haben ge­spürt: Da ist einer bereit, selber in das Dunkelfeld hineinzugehen und mitzugehen. Die medi­zinische Kompetenz des Arztes hat sich für uns dadurch nicht ge­schmälert. Im Gegen­teil, das Gespräch hat uns umso mehr auf sein medizinisches Wissen und Können vertrauen lassen.
Die Wahrheit ist mehr als die bloße Tatsache, dass etwas richtig ist  zum Beispiel die Diagno­se einer Krankheit. Zur Wahrheit gehört auch die Beziehung, die die Wahrheit mittragen kann. Zur Wahrheit gehört eine Beziehung, in der für einen Augenblick nicht über medizinische Wer­te, sondern über die persönliche Einstellung dazu gesprochen wird.
Uns hat damals dieser Arzt einfach gut getan. Weil er nicht nur behandelt, sondern auch be­gleitet hat. Ohne solch eine mitfühlende Begleitung lässt es sich kaum mit der Wahrheit le­ben. Eine beziehungslos hingeworfenen „Wahrheit" - wie zum Beispiel: „Sie haben Krebs; Sie haben ein Jahr noch zu leben" - so etwas kann einem Menschen den Boden unter den Fü­ßen wegziehen. Es braucht einen Menschen, der bereit ist, die Wahrheit nicht nur auszuspre­chen, sondern sie auch mitzutragen.
Aber was ist dann die Wahrheit? Die Wahrheit, von der Jesus sagt, dass sie frei macht und nicht erschlägt?

Teil 3
„Ich sage immer die Wahrheit", behauptet der Wahrheitsfanatiker. Er tut es mit gutem Gewissen  - und verärgert die Nachbarn, verprellt die Kollegen und verliert die Freunde.
Warum? Weil er kein Gespür dafür hat, dass Wahrheit etwas mit Beziehung zu tun hat. Oder anders gesagt: Wahrheit und Liebe sind keine Gegensätze. Sie gehören zusammen.
Zur Wahrheit gehört die Liebe. Und deshalb hat nicht jeder, der von mir „die Wahrheit" wissen will, auch das Recht, die Wahrheit von mir zu erfahren.
„Der Teufel ist ein Wahrheitsfanatiker", hat Dietrich Bonhoeffer festgestellt. Ein Wahrheitsfanatiker, der seinen Prinzipien sogar Menschen opfert. Er lächele hochmütig über das angerichtete Trümmerfeld und über die menschliche Schwäche, die die Wahrheit nicht ertragen konnte.
Anders als der Teufel ist Gott gerade kein Wahrheitsfanatiker. Gott  ist ein Freund der Wahr­heit. Das ist ein großer Unterschied. Für einen Freund der Wahrheit steht die Wahrheit immer in der Beziehung, in der sie gesagt wird. Die Bibel bezeichnet deshalb „Wahrheit" oft gleich­bedeutend mit „Treue".
Darum ist Gott der Gott der Wahrheit, weil man sich auf ihn verlassen kann. Dass wir zum Beispiel in seinen Augen unendlich wertvoll sind und eine unantastbare Würde haben, das gilt für alle Zeiten. So ist Gott treu und verlässlich und wahrhaftig.
Gott ist kein Wahrheitsfanatiker. Und deshalb kann er auch nicht der Sündenbuchhalter sein, nach dem Motto: „Der liebe Gott sieht alles!" So über Gott zu reden - gerade vor Kindern - wi­derspricht Gottes Wille.
Natürlich ist es schön, wenn in einem Psalm ein Mensch über Gott sagt: „Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. ... Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir". Diese Nähe Gottes ist deshalb so schön und beruhigend, weil es eben nicht der unbarmherzige Blick eines Wahrheitsfanatikers ist. Es ist der Blick von Gott, der Anteil nimmt an dem, was uns passiert. Der uns Menschen frei machen und uns nicht bei unseren Fehlern und Schwächen behaften will.
 „Muss ich immer die Wahrheit sagen?" Wer an Gott glaubt, für den verändert sich diese Fra­ge. Wer es mit der Wahrheit ernst nimmt und an Gott glaubt, der fragt eher so: „Was will ich mit dem, was ich sage und wahr nenne, bewirken? Schädigt meine Wahrheit oder hilft sie, zerstört sie den andern oder baut sie ihn auf?"
 „Der liebe Gott sieht alles" - Manchmal sind Kinder klug genug, von sich aus das falsche Got­tesbild zu entlarven und sich aus der Erpressung zu befreien.
Deshalb gefällt mir die kleine Episode, die ich in diesen Tagen las: Eine junge Frau habe vor einiger Zeit, so erzählt sie,  ihre alte evangelische Kindergärtnerin wieder gesehen. Und die habe ihr höchst amüsiert eine Anekdote von damals in Erinnerung gerufen: „Weißt du noch? Als einmal herausgekommen war, was du wieder angestellt hast? Da hast du uns alle sprach­los gemacht. Weil du - ertappt wie du warst - gesagt hast: 'Der liebe Gott hat es doch schon gesehen, und der hat nichts gesagt!'"
Ich finde das stark, wie es dieser jungen Frau schon als Kind gelungen ist, sich von diesem bedrohlichen Wahrheitsfanatiker - Gott zu befreien.  „Der liebe Gott hat es schon gesehen, und er hat nichts gesagt". Das Mädchen hat schon früh Gott als seinen Verbündeten erkannt. Mit so einem Verbündeten kann man stark werden fürs Leben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9111
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