SWR4 Sonntagsgedanken

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Vor einhundert Jahren, im Sommer 1910, starb Florence Nightingale, die Pionierin der modernen Krankenpflege

 

Teil I
Oft hört man, ein einzelner könne doch gar nichts machen, gegen das Elend in der Welt, gegen Unglück, Hunger und Leid. Eine junge Engländerin hat im 19. Jahrhundert das Gegenteil bewiesen. Von ihr möchte ich heute Morgen erzählen.
Florence Nightingale wurde 1820 in Florenz geboren und wuchs als Tochter einer wohlhabenden Familie in der Nähe von London auf. Für ein Mädchen ihrer Zeit genoss sie eine ungewöhnlich breite Bildung - vom Studium fremder Sprachen bis zur künstlerischen Erziehung. Aber in der Nachbarschaft des familiären Landsitzes wurde sie auch mit den unwürdigen Lebensbedingungen der Arbeiter und Kleinbauern konfrontiert. Im Zuge der Industrialisierung war viel Elend und Ungerechtigkeit entstanden.
Das wurde für die junge Frau zum Anstoß. Sie wollte, sie musste etwas tun: Gegen das Elend und für diese armen Menschen. Florence Nightingale kümmerte sich um hilfsbedürftige und kranke Menschen unter den Ärmsten. Gegen den Widerstand ihrer Eltern erlernte sie Krankenpflege. Die Krankenpflege galt bis dahin als niedrige Tätigkeit, die von Frauen aus der Unterschicht ausgeübt wurde. Aber Florence ließ sich nicht beirren. Sie hatte erkannt, dass man die Pflege verbessern musste, wenn man den Menschen helfen wollte. Man erlaubte ihr schließlich, bei Theodor Fliedner in der Kaiserswerther Diakonie bei Düsseldorf eine mehrmonatige Ausbildung zu machen. Dort erwarb sie sich viel Fachwissen über Struktur und Arbeitsprozesse in den Krankenhäusern.
Ihre große Bewährungsprobe war der Krimkrieg in den Jahren 1853 - 1856. Die Briten unterhielten in einer alten Kaserne in Skutari bei Istanbul ein Lazarett, in dem die Verwundeten und Cholerakranken auf schmutzigem Boden lagen. Sie hatten nicht einmal das Nötigste, weder Trinkwasser noch Medikamente noch Verbandsstoffe noch Decken und Betten. Operationen wurden ohne Betäubung durchgeführt. Die Presse alarmierte die britische Öffentlichkeit.
Florence Nightingale ging mit 38 Pflegerinnen in das Kriegsgebiet und organisierte die Pflege - von der Sauberkeit an den Krankenbetten bis zur Hygiene am Operationstisch. Bei ihren nächtlichen Runden durch die Krankenzimmer trug sie eine kleine Lampe bei sich. Dies machte sie berühmt als „Lady with the lamp".
Nicht nur der Krankenpflege durch dafür gut ausgebildete Frauen verhalf sie zum Durchbruch. Auch die Gründung des Roten Kreuzes durch Henri Dunant geht auf ihre Anregung zurück. Und seit dieser Zeit, genau seit 1864, gibt es auch die Genfer Konventionen, um Verletzte in Kriegsgebieten verlässlich zu versorgen. Dies alles hat eine einzelne junge Frau angestoßen - weil sie sich nicht beirren ließ und helfen wollte. Es ist nicht wahr, dass ein einzelner nichts tun kann. Und immer fängt es klein an. Ein Kranker, der Beistand findet, ein Armer, den ich unterstütze: das ist viel und macht die Welt ein bisschen heller. Wie die Lady mit der Lampe es tat.

Teil II
Es gehört zu den Grundlagen christlichen Glaubens, dass Krankheit und Leiden nicht abgeschoben und ausgegrenzt werden, dass der Schmerz keine Privatangelegenheit der Betroffenen bleibt. Sondern - „wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit" (1. Kor. 12,26). Krankenpflege gehört daher von Anbeginn zur christlichen Gemeinde dazu. Solidarisches Mitleiden ist praktisches Kennzeichen des christlichen Glaubens.
Florence Nightingale hat aus ihrem Glauben heraus beides auf den Weg gebracht: die Organisation von Verwaltung und Pflege in den Krankenhäusern und die öffentliche Anerkennung von Ausbildung, Tätigkeit und Besoldung der Krankenschwester. Darin war sie schließlich sogar eine Wegbereiterin der Berufstätigkeit von Frauen.
Seit damals gibt es keine Missionsstation in der Dritten Welt, in der nicht zumindest eine Krankenstation vorhanden gewesen wäre. Sich vom Schmerz der Kranken berühren lassen und helfen und lindern, wie Jesus es getan hat - das gilt bis heute weit über die christlichen Kirchen hinaus, von Amerika bis Pakistan.
Aber auch Angehörige und Nachbarn helfen einander. Es ist ein nicht zu unterschätzendes Wunder in unserem Land, dass 75 Prozent der Pflegebedürftigen zuhause gepflegt werden. Viele Angehörige und Nachbarn opfern sich dabei auf - und wieder sind es zuerst die Frauen, die dabei für die ganze Gesellschaft vorbildlich sind.
Dass es heute gemeindenahe und ambulante Krankenversorgung durch Diakonie- und Sozialstationen gibt, dass in Krankenhäusern Pflege, heilendes Handeln und Seelsorge zum Standard gehören, dass die Pflegeberufe trotz schwieriger Arbeitsbedingungen ein sehr hohes Ansehen haben - das geht auf Persönlichkeiten wie Florence Nightingale zurück, die Lady with the lamp. Heute tun viele voller Aufopferung diesen Dienst - in Pflegeeinrichtungen, in Diakonie- und Sozialstationen und in Krankenhäusern. Sie kennen keinen Sonntag, sie tun Dienst Tag und Nacht, sie sind zur Stelle, wenn sie gebraucht werden. Wie wäre es um die Menschlichkeit unserer Gesellschaft bestellt, wenn es sie nicht gäbe - die Krankenschwestern, Pflegerinnen und Pfleger, eben zu 80 Prozent Frauen.
Wir haben allen Grund dankbar zu sein - für die Lady with the lamp und allen, die es ihr gleichtun. Männer und Frauen, die sich einsetzen, damit unsere Welt ein menschenfreundliches Gesicht behält.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8983
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