SWR2 Wort zum Tag

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Inzwischen gibt es sie fast überall - die Jakobswege. Rekonstruktionen und Neuanlagen alter Pilgerwege, die Europa wie ein Netz durchziehen und in Santiago de Compostela in Nordspanien zusammenlaufen. Wer auf einem dieser Wege unterwegs ist, wird vom Zeichen der Jakobsmuschel geführt - entweder grafisch stilisiert als Strahlensymbol oder in Stein gemeißelt wie eine gewölbte Muschelhälfte.
Über Jahrhunderte hinweg haben sich Millionen von Pilgern an diesem Symbol orientiert. Wie die Jakobsmuschel genau zum Erkennungszeichen der Pilger nach Santiago geworden ist, liegt im Dunkeln. Es gibt Spekulationen. Aber das Interessante an einem Sinnbild ist ja nicht unbedingt seine Entstehungsgeschichte, sondern das, was es auszusagen hat. Und da spricht die einfache Muschel Bände.
Ein Aspekt sind die beiden Hälften ihres Gehäuses: Die eine symbolisiert die Erde, die andere den Himmel. Oder - wenn man es gern etwas zeitgemäßer formuliert haben möchte - die eine steht für die sichtbare, die andere für die unsichtbare Welt. Für die Materie und den Geist. Für den Körper und die Seele. Für Mensch und Gott.
Für viele Jakobspilger war und ist Santiago der Ort, an dem menschliche und göttliche Wirklichkeit sich treffen und begegnen. Am äußersten Ende der Alten Welt erwartete man, eine besondere Nähe zu Gott zu erleben. Dort wo es nur noch Wasser und Himmel gibt. Wo man sieht, wie sich beide berühren. Und der Weg nach Santiago ist der Weg zu dieser Begegnung. Ein Weg der Sehnsucht, aber auch ein Weg voller Erfahrungen.
Nicht wenige kehren von diesem Weg verändert zurück. Sie haben unterwegs entdeckt, dass das Leben selbst die beiden Seiten der Jakobsmuschel aufweist. Die eine Hälfte, gefüllt mit dem, was man gern „materielle Bedürfnisse" nennt: satt sein, gesund sein, Zeit haben und Zeit verplanen, Geld haben und Geld ausgeben können. Die andere Hälfte, gefüllt mit der Gewissheit, dass mein Leben Sinn und Ziel hat, gefüllt mit dem Vertrauen auf einen Gott, der mich trägt, mit der Erfahrung seiner Nähe.
Weitaus wichtiger am Symbol der Muschel ist - wenn man es denn so versteht - aber, dass beide Hälften nicht nur nebeneinander bestehen, sondern dass sie zueinander gehören. Sie entsprechen sich, sie hängen aneinander, sie berühren sich in einem Punkt. Sie berühren sich in meinem Leben und wollen zur Deckung gebracht sein. Denn beide Hälften der Muschel gehören - wie auch beide Hälften meines Lebens - untrennbar zusammen.

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