Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Du sollst nicht falsch Zeugnis reden gegen deinen Nächsten - sagt ein göttliches Gebot in der Bibel. Heißt das dann, dass ich immer und in jedem Fall die Wahrheit sagen muss? Von meinem Vater habe ich gelernt: „Alles was ich sage, soll wahr sein. Aber nicht alles was wahr ist, muss ich auch sagen". Diese Lebensweisheit habe ich mir angeeignet. Denn ich finde, Diplomatie und Höflichkeit helfen oft mehr im menschlichen Zusammenleben, als wenn man alles gerade heraus sagt.
Wenn ich in einen Kinderwagen mit einem Neugeborenen hineinschaue und finde das Kind nicht besonders schön, sondern ein bisschen schrumpelig, dann werde ich das der Mutter doch nicht sagen. Oder wenn ich an einer Supermarktkasse stehe, an der gerade eine Auszubildende eingelernt wird, brauche ich auch nicht herum zu mosern, dass alles so langsam geht.
Die Wahrheit immer und bei jeder sich bietenden Gelegenheit auszusprechen macht oft mehr in menschlichen Beziehungen kaputt, als dass sie weiter hilft.
Wenn ich meine, jemanden die Wahrheit sagen zu müssen, dann macht vor allem der Ton die Musik. Es kommt also darauf an, wie ich die Wahrheit sage. Bei einem Streit funktioniert das meistens nicht. Da wird sie oft so laut und dreist gesagt, dass der andere sie nicht oder nur ganz schwer annehmen kann. Die Wahrheit sollte man jemandem eher wie einen warmen Mantel hinhalten, dass er hineinschlüpfen kann und nicht wie einen nassen Waschlappen um die Ohren schlagen. Wahrheit in Liebe gesagt, kann zum Umdenken und zu einer Veränderung im Verhalten führen. Dazu gehört auch ein guter, geeigneter Zeitpunkt, an dem der Betroffene offen und aufnahmebereit ist.
Ich kenne Leute, die meinen, Wahrheiten, die nicht ausgesprochen werden, seien wie eine Lüge. Entsprechend rau und lieblos geht es bei denen zu Hause auch zu. Für solche Leute ist die sogenannte Ehrlichkeit das höchste Gut. Für mich ist sie das nicht. Ich finde, die Liebe steht über der Ehrlichkeit. Manchmal darf man aus Liebe und Barmherzigkeit auch einfach mal still sein. Höflichkeit ist eben nicht die Unehrlichkeit wohlerzogener Leute. Sondern sie hat etwas mit dem Respekt vor der Würde des anderen Menschen zu tun. Sie sagt zum Beispiel: Du Ich finde, ein weißes Hemd würde dir zu diesem Sakko besser stehen. Oder: Meinst du nicht, ein anderes Fernsehprogramm würde uns heute Abend besser tun? Mit einer solchen Haltung kann man dann auch eine Wahrheit sagen, die angenommen werden kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8900
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