Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Der Zug ist voll. Freitag nachmittag. Alle Plätze sind belegt. Ich fahre von der Arbeit nach hause. Zwei Familien mit mir im Abteil fahren wahrscheinlich ins Wochenende. Genauer gesagt: Ein Vater mit seinem Sohn und ein Elternpaar mit seiner Tochter. Ich schätze beide Kinder auf etwa 8 Jahre. Ihr Verhalten könnte nicht unterschiedlicher sein. Während der Sohn mit seinem Vater offensichtlich viel Freude hat und lebendig ist, sitzt das Mädchen stumm und angestrengt mit einer tragbaren Playstation da, Stöpsel in den Ohren und ganz vertieft in ihren Bildschirm. Hände und Gesichtszüge sind verkrampft. Nur ab und zu huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Ich nehme an, weil sie ein Monster besiegt, eine schwierige Aufgabe gemeistert, oder ein Rennen gewonnen hat. Plötzlich ein „Ja" mit Beckerfaust. Alles unkommentiert von den Eltern. Sie ignorieren das Spiel, sind stumm, jeder scheint mit sich selbst beschäftigt zu sein. Die Mutter liest eine Zeitschrift, der Vater steif, schläft oder zumindest hat er die Augen geschlossen. Die Sonne scheint für einen kurzen Moment herein. Der Bildschirm wird unleserlich. Die Tochter schnautzt ihre Mutter an: "Vorhang zuziehen". Der Befehl wirkt. Genervt legt die Mutter die Zeitschrift weg, tut wie ihr geheißen, blättert anschließend wieder weiter.
Ganz anders das Spiel der beiden anderen. Vater und Sohn sind bei einem Ratespiel angelangt. Erkennst Du die Melodie? Sie summen sich wechselseitig Liedanfänge vor, geben absichtlich falsche Antworten, glucksen und lachen, berühren und umarmen sich. Wenn ich von meinem Laptop aufblicke, werde ich sogar in das Spiel mit hineingezogen. Muss selber lächeln und lass mich von der Ausgelassenheit berühren. In Stuttgart muss ich aussteigen und verabschiede mich.
Zwei Welten habe ich erlebt. Ich wünsche dem Mädchen mit seinem Videospiel, Eltern die sich für sein Spiel interessieren, Eltern mit genügend Phantasie und Lebensfreude, Eltern, die kommunizieren, selber auch ab und zu Kind und sogar kindisch sein können.
Nicht das Videospiel an sich ist verwerflich. Was wäre gewesen, wenn sie sich über die Erfolge mitgefreut hätten? Was wäre gewesen, wenn sie sich abgewechselt hätten, der Vater versucht hätte, dasselbe Ziel zu treffen? Die Mutter versucht hätte, ein Rennen zu gewinnen, oder das nächste level zu erreichen? Kinderspiele sind wichtig, ob virtuell oder real, um sich in der Welt zu orientieren. Ich glaube es ist unsere Aufgabe als Erwachsene, dass unsere Kinder nicht in ihren Spielen allein gelassen werden, abtauchen und vereinsamen.

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