Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Ich entdecke für mich immer wieder neue Gebetszeiten und Gebetsorte: Gestern war es in meinem Büro eine halbe Stunde vor dem Aktenvernichter:
Ich stand mit einem Stapel Papier davor, habe Seite für Seite durch die messerscharfen, wie Zahnräder ineinandergreifende Walzen laufen lassen. Gefräßig und mit einem gleichmäßigen Brummen hat der Aktenvernichter meine Dokumente, uralte Kontoauszüge, Briefe, Korrespondenzen und andere für mich inzwischen wertlose Dinge einfach verspeist. Davon übrig geblieben sind nur dünne Papierstreifen fürs recycling oder als Verpackungsmaterial. Wenn ich ihm zuviel auf einmal zumutete, dann blockierte der Aktenvernichter, dann hatte er Schluckauf, Verdauungsschwierigkeiten. Der Aktenvernichter hat eine Abschaltautomatik bei Papierstau und vollem Auffangsack.
So ein Aktenvernichter denke ich, hat Ähnlichkeiten mit uns Menschen: er kann nicht alles auf einmal schlucken, nicht mehrere Sachen auf einmal verdauen. Irgendwann mal ist er voll. Dann muß der volle Auffangsack herausgenommen werden und das Gerät wieder bereitgemacht werden für den weiteren Vorgang. Auch wir Menschen müssen gelegentlich entrümpeln können, wegwerfen, loslassen können, und zwar nicht nur im realen Sinn, wie beim Sperrmüll, sondern auch mal „den Kropf leeren", einer größeren Weisheit überlassen, was wir selbst nicht zusammenbringen oder verstehen. Für mich ist das Beten: Mir bewußt Zeit nehmen für's Loslassen und Abschied nehmen, wenn neue Lebensabschnitte kommen, in der Familie oder im Beruf:
Kinder erwachsen werden lassen, loslassen. Eltern, gehen lassen. Sich von Arbeitskollegen verabschieden, Arbeitsbereiche wechseln, sich trennen von Gewohntem... um offen zu sein für neue Begegnungen, neue Freundschaften und neue Bindungen.
Alte Akten vernichten wurde für mich zu einer Meditation. Blatt für Blatt habe ich Dinge aus meiner Vergangenheit wieder in die Hand genommen und dem Vernichter übergeben. Fast zu jedem Blatt hatte ich eine Erinnerung. Gedanken an früher, Bilder, Gefühle sind aufgetaucht und mit dem Durchlauf des Papiers durch die Walzen des Aktenvernichters hatte auch ich das Gefühl, daß ich die Vergangenheit verdaue, abschließe, hinter mir lasse. Als ich fertig war, habe ich mich richtig erleichtert gefühlt. Ich habe ein Stück meiner Vergangenheit diesem Aktenvernichter anvertraut.
Dieses Abschalten, diese halbe Stunde war für mich ein wertvolles Gebet.

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