Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Wer schon mal richtig schlimmes Heimweh hatte, kennt einen alten Trick. Am Abend schaut man an den Himmel und sagt sich: Diese Sterne und dieser Mond, die sieht man von zu Hause jetzt gleich wie von hier. Und seltsamerweise funktioniert derselbe Trick auch, wenn ich mich in die Ferne wünsche
 Mir wird das im Urlaub immer besonders bewusst: Wie weit ich auch immer von zu Hause weg bin, von oben, vom Mond aus gesehen ist es ein Katzensprung oder noch weniger. Und dann denke ich weiter: Alle sehen dasselbe, aber in jedem Land, in jeder Sprache klingt das anders, was die Menschen sehen. Und wer weiß, vielleicht sehen sie ja auch anders oder sogar anderes als ich.
Ich glaube, das ist es, weshalb ich im Urlaub so gern in ein Land fahre, in dem eben nicht deutsch gesprochen wird. Das muss gar nicht sehr weit sein, schon über der Grenze fängt das an, dass sich mit der fremden Sprache auch mein Blick irgendwie verändert und ich manches ganz anders sehe als zu Hause. Ja, klar, so kann man auch leben, denke ich dann, wenn ich sehe, was anderswo anders läuft als wir das gewohnt sind. 
Es gibt nur einen Mond, aber er spiegelt sich in vielen Wassern. Ich weiß nicht, woher dieses Sprichwort kommt, aber es gefällt mir. Gerade wenn ich an unterschiedliche Lebensweisen denke. Es gilt aber auch für ganze Völker und ihre Kulturen, und auch für die Religionen. Der eine Mond, er steht für das, was wir Wahrheit nennen oder das Absolute oder Gott. Was wir davon sehen, ist ein Spiegelbild, und je nachdem, in welchen See oder welche Pfütze ich schaue, ist das Bild, das ich sehe, immer wieder anders. Es zeigt den Mond, aber es ist nicht der Mond.
So ist das auch mit den Bildern von Gott, die ich in mir trage. Ich habe sie - um im Bild zu bleiben - in den Bächen und Seen und Tümpeln gefunden, an denen ich lebe. Aber ich weiß, dass es noch andere Gewässer gibt, die ich nicht kenne. Und in ihnen spiegelt sich der Mond wieder ganz anders.
Bewusst wird mir das immer, wenn ich im Ausland in einen Gottesdienst gehe, mit anderen Menschen, anderer Sprache, anderen Liedern, anderen Formen von Volksfrömmigkeit, vielleicht auch anderer Konfession. Vieles ist mir da neu und fremd. Und ich staune jedes Mal wieder, über den einen Mond, der sich in vielen Wassern spiegelt - und über den einen Gott, der sich mir immer wieder anders  zeigt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8716
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