Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Wenn ein Angehöriger an Demenz erkrankt: wie soll man damit umgehen? Manche Familien versuchen, das zu verbergen, so gut sie können. Weil sie den Erkrankten nicht bloß stellen wollen, oder weil es ihnen selber peinlich ist, was aus dem Vater, aus der Mutter oder der Oma geworden ist.
Eine prominente Familie mit einem Demenzkranken hat das anders gemacht. Es ist die Familie des Tübinger Professors Walter Jens. Auch er ist an Demenz erkrankt und sein Sohn Tilman hat ein Buch darüber geschrieben. Ein Satz darin lässt mich nicht los. Tilman Jens schreibt: „Wir werden sein Leid nicht verstecken".
Der Sohn schreibt darüber, wie sein Vater gewindelt und gefüttert werden muss, wie er mit Grundschulfibeln etwas Lesen übt, wie er mit Puppen spielt und Kaninchen füttert. Die Krankheit hat den einstigen Professor zurückgezwungen ins Leben eines Kleinkindes. Und sie hat sein Wesen verändert.
Tilman Jens hat sich mit seinem Buch viel Kritik eingehandelt. Viele fanden das lieblos und ganz und gar unwürdig, den berühmten Mann so in seiner Schwäche zu zeigen. Die Familie Jens sieht das anders: Sie meinen, es sei unter der Würde des berühmten Mannes, ihn jetzt, da er krank ist, zu verstecken.
Was die Familie Jens erlebt, das erleben viele andere auch: wie der Mensch, der einst ein ebenbürtiger Partner war oder eine Respektsperson in der Familie, gepflegt und behütet werden muss wie ein kleines Kind. Und nicht einmal mehr seine Angehörigen erkennt. Und dass sie da sein müssen, oft bis ans Ende ihrer Kraft. Viele sagen: „Besonders schlimm ist, wenn die Freunde und Nachbarn sich zurück ziehen, wenn man nicht mehr eingeladen wird und die Bekannte sich nicht mehr melden."
Warum das so ist? Ich glaube, viele sind einfach unsicher - wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Deshalb finde ich es gut, dass Tilman Jens dieses offene Buch über die Demenzkrankheit seines Vaters geschrieben hat. Nicht nur, weil es jeden von uns treffen kann. Sondern weil um uns herum demenzkranke Menschen leben und oft von ihren Angehörigen gepflegt werden.
Niemand lebt für sich alleine. Wir alle sind Freunde, Nachbarn, Bekannte. Wenn wir mehr über die Krankheit Demenz wissen, dann nimmt uns das vielleicht auch die Scheu, und wir trauen uns und fragen: Kann ich Dir irgendwie helfen? Und wenn es nur das ist, dass wir zuhören und nicht so tun, als ob nichts wäre. Ich finde, das ist schon viel.

Tilmann Jens, Demenz, Abschied von meinem Vater, Gütersloher Verlagshaus

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8701
weiterlesen...