Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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In Amerika gehen die Leute zum Psychiater. Das kann man in vielen amerikanischen Filmen und Fernsehserien sehen. Dabei sind die Amerikaner wahrscheinlich auch nicht gestörter als die Menschen in anderen Ländern. Was also treibt sie zum Therapeuten?
Ich habe das neulich in einem Vortrag eines Psychologen erfahren. Er hat genau erklärt wie er als Therapeut arbeitet und von den einzelnen Schritten einer Psychotherapie erzählt. Aber am Ende hat er gesagt, dass es im Grunde nur auf eine einzige Sache ankommt: Er kann Menschen dann helfen, wenn es ihm gelingt, ihnen das Gefühl zu geben, angenommen und akzeptiert zu sein, so wie sie sind. Und das braucht im Grunde jeder.
Ich glaube, dass das nicht nur in Amerika so ist, sondern überall auf der Welt, auch bei uns. Aber viele Menschen sind sich dessen gar nicht bewusst. Wir kümmern sich um alles Mögliche, was wir zum Leben brauchen, um Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf. Aber um Liebe und Anerkennung darum kümmern wir uns nicht. Obwohl das auch ein Lebensmittel ist, etwas, das wir brauchen und ohne das wir eigentlich gar nicht leben können.
Als Jesus einmal gefragt wurde, was das wichtigste im Leben ist, hat er geantwortet: Gott lieben, seinen Nächsten lieben und: sich selbst lieben. Und mich selbst lieben kann ich eben nur wenn ich mich angenommen und akzeptiert fühle. Wie sorgen Sie dafür, dass Ihr Bedürfnis nach Liebe gestillt wird?
Ich glaube, dazu braucht man eigentlich gar keine Therapeuten, der einen sozusagen von Berufswegen liebt. Ich denke, das könnten wir Menschen uns doch auch gegenseitig geben. Ein Lob, ein freundliches Wort, echtes Interesse am Anderen - all das lässt in einem Menschen das Gefühl entstehen, anerkannt und geliebt zu sein. Wie das geht, lerne ich zum Beispiel von der Privatdetektivin in dem Roman, den ich gerade lese. Sie ist eine Meisterin, anderen dieses Gefühl zu vermitteln. Wenn Menschen zu ihr kommen, von sich erzählen und dann auch ihren Beruf nennen - Krankenschwester, Köchin oder Lehrer, sagt sie jedes Mal: „Das ist aber ein schöner und sehr wichtiger Beruf", und sie meint das ganz ernst.
Vielleicht sollten wir uns das ab und zu fragen: Wo bekomme ich heute meine Tagesration Liebe her? Bei welchen Menschen habe ich das Gefühl, akzeptiert zu sein, wie ich bin? Und: wie kann ich dazu beitragen, dass auch andere ihre Tagesration bekommen? Dann haben die Psychotherapeuten zwar weniger zu tun, aber die klagen sowieso über zu lange Wartlisten.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8583
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