Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Wer gibt schon gerne zu, sich getäuscht zu haben? Wer will schon enttäuscht werden? - Natürlich niemand. Und doch ist die Ent-täuschung ein beharrlicher Wegbegleiter. Da ist die große Liebe. Man schwebt auf Wolke sieben. Dann: aus und vorbei. Wie konnte mir das passieren?  Enttäuschungen kann es in allen Beziehungen, in allen Lebensbereichen geben: in der Ehe, in einer Freundschaft, unter Arbeitskollegen. Der Alltag ist voll von kleinen und großen Enttäuschungen. Wie kommt es dazu? - Vielleicht bin ich einer Täuschung aufgesessen. Und nun werde ich aus dieser Täuschung herausgerissen - ich bin ent-täuscht. Vielleicht habe ich in einen Menschen etwas hineingelegt, was so nicht in ihm drin ist. Er ist gar nicht der Liebste, der Gescheiteste. Sie ist gar nicht die Schönste, die Gutmütigste. Und nun bin ich enttäuscht, weil sich das irgendwann einmal herausstellt. Weil sich beim anderen Verhaltensweisen zeigen, die ich vorher nicht gesehen habe, oder nicht sehen wollte.  Weil ich allzu lange mit einer Illusion gelebt habe und ich es mir dabei auch einfach gemacht habe. Das einsehen zu müssen tut weh. So voneinander ent-täuscht sein kann aber auch etwas Gutes haben: Mir gehen die Augen auf, der Blick wird klarer, neue Einsichten und Erfahrungen stellen sich ein. Wir sehen und begegnen einander neu. Nach dem Ende der Täuschungen kann Neues beginnen. Der Schriftsteller Ulrich Schaffer hat das, was neu entsteht, im Blick auf die Liebe in dieses Gedicht gefasst: „Gerade wenn wir glücklich sind und uns nichts mehr zu fehlen scheint, möchte ich weggehen aus deinen Armen, aus dem Zimmer, aus der Stadt und dem Land, aus den gewohnten Gedanken und sehen, was dann noch übrig bleibt von dir, von mir. Aus dieser Unruhe will ich ein Haus bauen, in das ich dich einladen kann." 

* * Ich will zart sein mit dir, Kreuz Verlag, Stuttgart 1985, S. 64

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