Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Eine Szene in der U-Bahn. Drei Typen bedrängen einen unauffälligen Jugendlichen, fordern Zigaretten von ihm, nehmen ihm sein Buch ab, machen sich lustig über seine Lektüre, zerreißen das Buch. Er versucht sich zu wehren, hat aber keine Chance. 
Angenommen, ich werde gezwungenermaßen Zeugin dieses widerlichen Treibens. Was soll ich tun? Eingreifen und mich selbst in Gefahr bringen? Oder so tun, als sei meine Zeitung so spannend, dass ich gar nichts anderes mitkriege?
Zum Glück ist mir so was Krasses noch nicht passiert, und ich weiß deshalb auch nicht, wie ich mich in einer solchen Ausnahmesituation verhalten würde. Ich wünsche mir natürlich, dass ich ruhig und souverän eingreife, alles richtig mache, die Angreifer verblüffe, den Jungen an der Hand fasse und mit fester Stimme sage: Komm, wir gehen. Aber ich zweifle, ob mir das im Ernstfall gelingen würde.
Untersuchungen zeigen etwas ganz Erstaunliches: wenn es für einen solchen Vorfall  nur einen Zeugen gibt, dann greift der mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit ein, bei zweien halbiert sich die Chance schon, und das geht so weiter, bis niemand mehr irgendeine Reaktion zeigt.
Eigentlich würde man doch erwarten, dass man sich sicherer fühlt, wenn auch noch andere da sind, die einem notfalls zu Hilfe kommen könnten. Aber offenbar ist es so, dass man in der Menge untertaucht und sich nicht mehr verantwortlich fühlt - sollen die anderen doch was machen. Und schon habe ich - simsalabim - die Tarnkappe auf und kann so tun, als sei ich gar nicht da.
Auf mich kommt es doch nicht an. Dieses harmlose Sätzchen ist einer der hartnäckigsten Irrtümer der Geschichte. Und einer der gefährlichsten. Wenn es auf mich nicht ankommt, dann auch nicht auf dich, auf ihn, auf sie, auf keinen von uns. Und dabei wissen wir doch aus unserer Geschichte, was passieren kann, wenn der einzelne Mensch nicht mehr wichtig ist, sondern nur noch das Volk, das Kollektiv. Da können Menschen leicht zu ‚Menschenmaterial' werden, zu einer Häftlingsnummer, zu Kanonenfutter, zu einem bloßen Wirtschaftsfaktor oder zu einer statistischen Zahl. Es kommt sehr wohl auf mich an. Manchmal wäre es mir lieber, es wäre nicht so. Aber meistens ist es ein gutes Gefühl. Denn wenn es auf mich ankommt, heißt das ja auch: ich bin wichtig und wertvoll.

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