Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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In der homöopathischen Medizin kennt man einen seltsamen Effekt, der als Erstverschlimmerung bezeichnet wird. Wenn ich beginne, irgendwelche Tropfen oder Kügelchen einzunehmen, dann muss ich damit rechnen, dass die Krankheitssymptome erst mal stärker werden, bevor sie dann, im besten Fall, schwinden. Die Fachleute sehen darin nichts Beunruhigendes, sondern im Gegenteil ein Zeichen dafür, dass man das richtige Mittel gefunden hat und dass die Wirkung einsetzt. Wenn man gewohnt ist, von der Medizin anderes zu erwarten, dann ist das erst mal gewöhnungsbedürftig und wirkt wie ein unnötiger Umweg.
Nun kann man über Heilmethoden ja ohne Ende streiten. Was mich fasziniert, ist vor allem mal dieser Begriff: Erstverschlimmerung. In der Medizin habe ich keine Erfahrung damit, aber im Alltag ist mir so was durchaus nicht fremd.
Ich denke da zum Beispiel an den Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer. Hin und wieder spüre ich den Wunsch, mal wieder ein bisschen Tischfläche zu sehen, und dann fange ich an aufzuräumen. Ansichtskarten und Zeitungsausschnitte, Rechnungen, Notizzettelchen, Werbung vom neuen Pizzaservice. Im ersten Schritt lege ich schon mal Gleiches zu Gleichem, und im Nu ist nicht nur der Schreibtisch voll, sondern auch noch der Fußboden - wohin sollte man auch sonst mit den kleinen Papierhäufchen, bevor dann irgendwann alles sauber abgeheftet im Ordner landet? Das ist die Sorte Erstverschlimmerung, die mir vertraut ist. Jetzt nur nicht aufgeben, sondern dem Chaos standhalten und mich tapfer vorarbeiten.
Das gilt auch fürs innere Aufräumen. Aufräumen, um wieder Übersicht zu bekommen und den Blick fürs Wesentliche. Gewohnheiten verändern. Bedürfnisse hinterfragen. Sich auf Neues einlassen, was mehr Freiheit ermöglicht.Und auch da gilt es, mit der bekannten Erstverschlimmerung zu rechnen. Denn wenn ich wirklich hinschaue und nicht mehr verdränge, was ich nicht wahrhaben will, dann sehe ich erst mal in aller Nüchternheit, wie es steht - und möchte am liebsten gleich wieder aufgeben.
Ob außen oder innen, wenn ich mich ans Aufräumen mache, zählen nicht die großen Pläne, sondern die kleinen Schritte, nicht der schnelle Sprint, sondern der lange Atem. Und vor allem: dass ich mich unterwegs von nichts entmutigen lasse, erst recht  nicht von einer Erstverschlimmerung.

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