Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Du siehst heute ja toll aus! - Ach, das ist nur das schmeichelhafte Licht. Wahlweise könnte es auch der neue Lippenstift sein oder die grüne Bluse oder irgendwas anderes, mit dem ich das Kompliment abschmettere. Und wenn mein Kuchen gelobt wird, sage ich schnell: das ist halt ein Rezept, bei dem nichts schiefgehen kann. Kennen Sie das auch? Diese Verlegenheit, wenn man ein Kompliment bekommt? Obwohl man sich innerlich darüber freut, muss man das Lob klein machen, und sich selbst gleich mit dazu. Nun gibt es tatsächlich Komplimente, die eher eine Unverschämtheit sind, weil sie offensichtlich unehrlich sind oder gönnerhaft oder eine plumpe Anmache, und die muss man auch nicht annehmen, aber die allermeisten sind einfach so gemeint, wie sie gesagt werden. Und dann ist es destruktiv, solange zu suchen, bis ich ein Haar in der Suppe finde. Wie wär's, einfach danke zu sagen, denn ein Kompliment ist ja ein Geschenk, etwas Freiwilliges, auf das es keinen Anspruch gibt. Noch schöner ist es, wenn ich zeige und auch sage, wie sehr ich mich darüber freue. Wie gut es mir tut, in dieser Weise wahrgenommen, anerkannt, geschätzt, vielleicht sogar ein bisschen bewundert zu werden. Klar, ich zeige damit auch, wie bedürftig ich bin, wie wenig ich mir selbst genüge, und das braucht ein bisschen Mut und vor allem Vertrauen.
Nur wer Komplimente annehmen kann, kann auch welche austeilen. Darin versteckt sich das bekannte Gebot Jesu, andere ebenso zu lieben wie sich selbst - und sich selbst ebenso wie andere. Wenn ich mit mir selbst (so einigermaßen) einverstanden bin, kann ich auch anderen sagen, was ich an ihnen schön oder gut oder liebenswert finde. Einfach so, ohne Zweideutigkeit, ohne Berechnung, ohne Erwartung, ohne zu vergleichen, ob ich da mithalten kann. Und das Erstaunlichste: wenn ich jemandem ein Kompliment mache, steigt auch meine Laune, nicht, weil ich mich deshalb als guter Mensch fühle, sondern weil da offenbar etwas überspringt an Wohlwollen, an Bereitschaft,  etwas stehen zu lassen, ohne daran rummäkeln zu müssen.
Schon kleine Kinder lernen heute, zu sehen und einander zu sagen, was sie an sich selbst und an einander gut finden. Ich glaube, das zu trainieren, ist etwas sehr Wesentliches. Denn nicht nur Kritikfähigkeit ist eine soziale Kompetenz, sondern auch Komplimentfähigkeit.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8187
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