SWR4 Abendgedanken RP

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Philipp Melanchthon war einer der brillantesten Gelehrten des 16. Jahrhunderts und ihm verdankt die Reformation seinen großen Erfolg. Denn aus ganz Europa strömten damals junge Studenten nach Wittenberg, um ihn zu hören. Er starb vorgestern vor 450 Jahren

Teil 1
Es gibt Menschen, die stehen immer im Schatten eines anderen. Franz Beckenbauer zum Beispiel hätte in den siebziger Jahren niemals so vor der Abwehr bei Bayern München brillieren können, wenn nicht Katsche Schwarzenbeck ihm den Rücken frei gehalten und den Gegnern das Fürchten beigebracht hätte. Thomas Anders ist uns nur noch wegen der vielen Hits, die Dieter Bohlen schrieb, als ein Modern Talking im Gedächtnis. Und selbst Johannes Paul II. profitierte von einem Menschen in seinem Schatten, der als sein Denker galt - Kardinal Ratzinger als damaliger Präfekt der Glaubenskongregation in Rom und jetziger Papst Benedikt XVI.
Und auch Martin Luther hätte mit seinen Gedanken nie einen solchen Durchbruch erlebt ohne seinen Kollegen Philipp Melanchthon. Luther kennt heute jeder, aber Philipp Melanchthon - kennt den noch einer?

Keine Ahnung, ich weiß es nicht.  - Das ist ‚ne gute Frage. Ich weiß leider keine Antwort darauf. - Das war ein Maler, ein Kirchenmaler. - Das weiß ich auf Anhieb nicht.

Das waren die häufigsten Antworten, die ich bekam. Und wenn sich jemand an ihn erinnerte, dann als der im Schatten eines anderen.

Ich bringe ihn mit Martin Luther, mit der Reformation in Verbindung. - Das war der, der zur Zeit Luthers gelebt hat. Das war eigentlich sein Nachfolger, mit dem hat er zusammengearbeitet zunächst. - Das war ein Mitstreiter vom Martin Luther.

Melanchthon, der im Schatten von Martin Luther, der Mensch im Hintergrund. Dabei war er viel mehr. Ohne Philipp Melanchthon sähe unser gesamtes Schulsystem heute wohl anders aus. Die Bildung des Menschen war sein Herzensanliegen. Nicht ohne Grund gibt es deshalb unzählige Schulen, die seinen Namen tragen, von Bautzen bis Würzburg und rauf in den hohen Norden, natürlich auch in seiner Heimatstadt in Bretten. „Praeceptor Germaniae" - „Lehrer Deutschlands" diesen Ehrentitel bekam Melanchthon in späteren Jahren verliehen, weil er das deutsche Universitätswesen reformierte.

Ohne Philipp Melanchthon wäre auch die Reformation wohl anders ausgegangen. Er vertrat Martin Luther bei wichtigen Verhandlungen, war Schreiber wichtiger reformatorischer Schriften und ein brillianter Redner, gefeiert von den Protestanten, hochgeachtet von den Katholiken. Schon damals - im unruhigen 16. Jahrhundert - galt er als ein großer Ökumeniker, weil ihm neben den trennenden Unterschieden auch die Gemeinsamkeiten zwischen den Konfessionen am Herzen lagen. Viele Kirchengemeinden tragen seinen Namen und setzen sein Erbe in ihrer Arbeit fort.

Für Martin Luther selbst war Philipp Melanchthon viel mehr als sein Schatten. In seiner deftigen Art zu reden ist seine Wertschätzung für seinen Freund Melanchthon so überliefert:

„Wer Melanchthon nicht als Lehrer anerkennt, der muss ein rechter Esel sein, den der Dünkel gebissen hat. - Darum lasst uns den Mann groß achten. Wer ihn verachtet, der muss ein verachteter Mensch vor Gott sein!".

Teil II
Geboren wurde er am 16. Februar 1497 in der kurpfälzischen Handels- und Handwerkerstadt Bretten. Sein Vater, der Rüstmeister und Waffenschmied Gerog Schwarzerdt und seine Frau Barbara freuen sich sehr über ihr erstes Kind und nennen es Philipp. Philipp Schwarzerdt. Philipp entdeckt schon als kleiner Junge sein Interesse an fremden Sprachen. Doch schon mit sieben Jahren trifft ihn ein erster Schicksalsschlag. Sein Vater stirbt. Auf dem Sterbebett verabschiedet er sich von seinem Sohn so:

„Ich habe manche Veränderungen des Gemeinwesens erlebt, aber es werden noch schwerere kommen, und ich bete, dass dich Gott in ihnen leite. Dir aber gebiete ich, mein Sohn, fürchte Gott und führe ein ehrbares Leben".

Und genau so ein Leben beginnt er. Sein Großonkel Johannes Reuchlin, einer der führenden Gelehrten seiner Zeit - fördert den kleinen Philipp nach dem Tod des Vaters. Er ist auch verantwortlich dafür, dass wir ihn bis heute unter dem Namen Melanchthon kennen. Denn nach einem guten humanistischen Gelehrtenbrauch der damaligen Zeit übersetzt er den Namen „Schwarz - erdt" einfach ins Griechische und so wird daraus eben „Melan - chthon". Das war so etwas wie die Aufnahme in den Gelehrtenkreis. Und so muss das Wunderkind, das Philipp von früh an ist, einfach Karriere machen. Heute hätte er bestimmt Schulen und Förderkurse für Hochbegabte durchlaufen. Denn schon mit zwölf Jahren schreibt sich der Junge an der Universität in Heidelberg ein. Mit 16  macht Melanchthon sein Magisterexamen in Tübingen. Und natürlich war seine Karriere vorgezeichnet.
Sein Großonkel Johannes Reuchlin hatte ihn dem Kurfürst Friedrich dem Weisen als Professor nach Wittenberg empfohlen. Da  war Melanchthon gerade erst 21 Jahre alt. So ein „Jungspund" - schmal und klein von Statur, gerade mal 1,50 m groß - wurde da keineswegs mit offenen Armen empfangen. Die meisten Gelehrten protestierten lautstark. Unter ihnen war einer besonders laut - Martin Luther. Er wollte lieber einen erfahrenen Wissenschaftler an seiner Seite, keinesfalls einen jungen Berufsanfänger, gerade in diesen unruhigen Zeiten. Doch schon für seine Antrittsvorlesung gab es von Studenten und Kollegen wahre Beifallsstürme. Da war seine brilliante Art zu reden, vor allem aber das, was er sagte. So sagte er in seiner Antrittsvorlesung:

Denn das ist allerdings meine Meinung, dass niemand sich in der Gottes- oder Rechtsgelehrtheit, in der Kirche oder vor Gericht, wird auszeichnen können, der sich nicht zuvor eine gründliche allegmeine Bildung - und nichts anderes bedeutet die Philosophie - angeeignet hat. ... Sucht euch vom Besten das Beste heraus, und nutzt es für die Kenntnis der Natur und der Bildung eurer Sitten! ... Lest die Dichter! ... Vor allem aber lernt die Geschichte kennen. Sie lehrt euch, was schön ist und was schimpflich, was Nutzen bringt und was nicht!"

Mit solchen Gedanken beginnt Melanchthon sein Bildungsprogramm, reformiert die deutschen Universitäten, wird zum Reformator der Bildung und des Glaubens.

Teil III
Lesen lernen - das war das Hauptanliegen Philipp Melanchthons. Voraussetzung für die Mündigkeit des Menschen, Voraussetzung für seine Bildung war und ist bis heute die Fähigkeit, lesen zu können. Mit diesem „Lesen lernen" startete Philipp Melanchthon sein Bildungsprogramm, dessen Erben wir heute immer noch sind. Deshalb gründete er Schulen, Universitäten erhielten neue Lehrpläne, Lehrer wurden ermahnt, auch Mädchen zu unterrichten. Ja, Melanchthon war wirklich ein Reformator, aber ein Bildungsreformator.

Theologe wollte er eigentlich nie sein, Pfarrer schon gar nicht. Und doch gab es da die ganz besondere Nähe zu Martin Luther. „Von ihm", so schrieb er es später in seinem Testament, „habe ich das Evangelium gelernt." Was Martin Luther an seinem Freund Melanchthon hatte, wusste er spätestens seit 1519. In diesem Jahr gab es das berühmte Streitgespräch mit dem katholischen Theologen Johannes Eck. Und das ging so: Zwei brilliante kluge Köpfe streiten. Und in der Ecke sitzt ein junger Melanchthon, notiert sich während der Reden von Johannes Eck eifrig Bibelstellen, mit denen Luther später seinen Gegner in seinen Antworten in arge Bedrängnis bringt. „In meinem ganzen Lehramt achte ich nichts höher als den Rat Philipps!", sagt Martin Luther dann nach diesem Gespräch erleichtert.

Doch bald schon blieb es dann nicht mehr beim Sitzen in der Ecke.  Auf dem Reichstag in Augsburg 1530 vertrat Melanchthon die Protestanten und verlas die gemeinsam mit Martin Luther verfasste Confessio Augustana - das bis heute wichtigste Bekenntnis der Protestanten. Pfarrerinnen und Pfarrer werden noch heute bei ihrer Ordination darauf verpflichtet. Zu Recht, denn diese Schrift Melanchthons ist aktuell wie eh und je. Für mich als Pfarrer ganz persönlich ist es der Artikel 7. Da schreibt Melanchthon:

Das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, dass das Evangelium einmütig im rechten Verständnis verkündigt und die Sakramente dem Wort gemäß gefeiert werden. Für die wahre Einheit der christlichen Kirche ist es daher nicht nötig, überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten kirchlichen Ordnungen einzuhalten.

Eine Kirche, verbunden durch denselben Glauben, aber aufgeteilt in verschiedene Formen der Glaubenspraxis und Liturgie. Einheit in der Vielfalt - wie wir heute sagen. Das ist seit 1530 das Programm der Protestanten, dafür bin ich Philipp Melanchthon dankbar.
Und in noch etwas anderem ist er für mich Vorbild und tröstet mich. Kurz vor seinem Tod am 19. April 1560, also vergangenen Montag vor 450 Jahren, schreibt er in zwei Spalten auf einen Zettel seine Gedanken zu seinem bevorstehenden Tod. In der linken Spalte steht:

Du wirst von den Sünden erlöst - und von den Sorgen und von der Wut der Theologen.
Und rechts daneben schreibt er:
Du kommst zum Licht, du wirst Gott schauen und seinen Sohn, du wirst die wunderbaren Geheimnisse erkennen, die du in deinem Leben nicht begreifen konntest!"

https://www.kirche-im-swr.de/?m=8150
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