Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Manchmal sind es die kleinen Dinge, die Großes lehren. Der Dichter Robert Gernhardt sagt das in einem Gedicht.

„Beim Tomatenpflücken bleibt
mein Hemd an einer der Stangen
hängen und reißt.
Ritsch.

Beim Ausziehen bleibt
mein Blick am Etikett des Hemdes
hängen und liest: „Eterna“
Ratsch.“

Eterna ist lateinisch und bedeutet „Ewigkeit“. Das Hemd trägt den Markennamen Ewigkeit. Aber trotzdem ist es zerrissen. Den Kunden sollte es wohl versprechen – unsere Hemden halten ewig. Aber natürlich ist das nicht so. Nichts hält ewig.
Das Hemd von Herrn Gernhardt nicht. Und alles andere auch nicht.
Als Robert Gernhardt das Gedicht geschrieben hat, war er an Krebs erkrankt. Da wusste er schon, dass er irgendwann „sein letztes Hemd“ würde anziehen müssen. Und er schrieb Gedichte darüber. „K-Gedichte“ hat er sie genannt. „K“ wie Krankheit, K wie Krebs.

Doch diese Gedichte sind mehr als seine persönliche Vorbereitung auf den nahen Tod.
Die Krankheit hat den Dichter etwas über das Leben gelehrt. Und diesen Wahrheitsblick auf das Leben, den gibt er weiter. Damit auch wir das sehen können.
Wie zerbrechlich doch alles ist, was wir normalerweise für so stabil und unzerstörbar halten.
Wie schnell kann so ein Riss durch ein Leben gehen wie durch ein Hemd.
Eine Beziehung zerbricht. Eine Familie. Der Körper wird krank. Eine wunderbare Karriere, und plötzlich ist sie zu Ende. Ein kleiner Moment nur, und schon gibt es da nichts mehr zu flicken. Von wegen „für die Ewigkeit“ – das meinen wir nur.
Aber manchmal genügt eben so ein kleiner Moment und wir wachen auf. Und merken – selbstverständlich ist gar nichts.
„Exempla docent“ hat Robert Gernhardt sein Gedicht genannt.
Das ist schon wieder Latein und bedeutet: Beispiele belehren. Die kleinen Dinge lehren uns etwas. Sie sind wie kleine Blitzlichter, die den ganz normalen Alltag in ein anderes Licht tauchen: Mein Leben vergeht. Es ist nicht ewig.
Und kostbar ist darum jede Stunde, die ich leben darf. Und wertvoll ist das, durch das noch kein „Riss“ gegangen ist. Ein Körper, der hinreichend gesund ist. Beziehungen, die funktionieren und die die Kraft haben, immer wieder heil zu werden. Die Wohnung und Geld, sie zu bezahlen.
Das ist alles nicht gar nicht selbstverständlich und schon gar nicht ewig.
Erst wenn ich irgendwann mein „letztes Hemd“ anziehen muss – erst dann, glaube ich, wird Gott mich lehren, was das wirklich ist – die Ewigkeit.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=7876
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