Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Der englische Schriftsteller Ernest Hemingway soll gesagt haben: „Man braucht zwei Jahre um sprechen zu lernen, aber 50 Jahre um schweigen zu lernen.“
Das gilt sicher nicht für alle. Es gibt Schweigsamere unter uns und Menschen, die eher redselig sind. Ich beobachte immer wieder, dass es nicht so einfach ist, wenn sehr unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen. Für die einen ist der andere ein Schwätzer, redet viel zu viel auch über belanglose Dinge, kommt sich dabei vielleicht sogar noch wichtig vor. Die anderen wiederum verstehen nicht, wie man so schweigsam sein kann. „Stille Wasser“ sind tief. Für beide kann das jeweils andere Verhalten unangenehm sein. Zum Beispiel Menschen in Führungspositionen tun sich schwer, wenn sie schweigsame Mitarbeiter haben. Ich werde gefragt: „Was machen Sie mit einem Mitarbeiter, der Nichts sagt?“ Mein Tipp: „Schweigen aushalten“. Das ist nämlich für Führungskräfte gar nicht so einfach. Die reden gerne, geben Anweisungen und Ratschläge und glauben oft, besser zu wissen, was getan werden muss. Dass da Mitarbeiter lieber schweigen, verstehe ich gut. Es wurde untersucht, wie Führungskräfte in Deutschland mit ihren Mitarbeitern sprechen. Das Verhältnis von Reden und Zuhören beträgt ungefähr 70 zu 30. Das heißt Vorgesetzte reden mehr als zwei Drittel und die Mitarbeiter weniger als ein Drittel. Eigentlich sollte es andersherum sein oder zumindest fifty fifty. Warum fällt es Verantwortungsträgern so schwer, einfach mal zu schweigen? Warum glauben Führungskräfte, besser zu wissen, wo die Probleme liegen und wie sie bearbeitet werden können?
Letztens bekam ich als Rückmeldung zu einem Führungskräfte-Seminar eine e-mail, in der stand: „Ich habe schon viel aus Ihrem Seminar angewendet. Vor allem "Schweigen aushalten". Ich habe mehr Dinge von Mitarbeitern erfahren als in allen bisherigen Gesprächen, die ich geführt habe. Vielen Dank für den Tipp.“
Allerdings gibt es verschiedene Formen des Schweigens: Ein vorwurfsvolles Schweigen, ein beleidigtes Schweigen, ein ängstliches Schweigen, ein anklagendes Schweigen. Das kann schlimm sein.
Ein vertrautes, zugewandtes Schweigen kann dagegen sehr schön sein und Nähe bedeuten. Ein wohlwollendes Schweigen kann Mut machen.
Ich hoffe Hemingway hatte Unrecht, als er sagte: „Man braucht zwei Jahre um sprechen zu lernen, aber 50 Jahre um schweigen zu lernen.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=7443
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