Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Auch wer noch nie in Rom war, noch nie im Vatikan, noch nie in der Sixtinischen Kapelle, die meisten kennen das Bild: zwei Hände berühren sich fast. Zwei ausgestreckte Zeigefinger. Die Fingerspitzen sind nur durch einen Hauch voneinander getrennt. Michelangelo malte vor über 500 Jahren diese Momentaufnahme von der Erschaffung des Adam. Das Motiv wurde in den letzten Jahren immer wieder von der Werbung aufgegriffen: Mal sprühen Funken zwischen den gemalten Fingerspitzen, mal illustriert eine große Firma ihr Logo mit den zwei sich suchenden Händen, mal nähert sich auf den Plakaten für einen Kinofilm der überlange Finger eines Außerirdischen dem gestreckten Zeigefinger einer Kinderhand.
Warum fasziniert dieser Augenblick kurz vor der Berührung? Die Bibel erzählt im ersten Buch Mose zwei Phasen bei der Erschaffung des Menschen: Zuerst wurde er aus einem Erdenklos geformt. Da war er noch ohne Leben. Dann blies ihm Gott den lebendigen Odem in die Nase. Michelangelo hat diese Szene sehr eindrucksvoll umgedacht: Statt der unsichtbaren Beseelung durch Atmen, malte er die Fast-Berührung der Fingerspitzen. Auf der einen Seite der leblose, kraftlose und schläfrig wirkende Adam, auf der anderen Seite ein wie aus dem Kosmos stürmender, vitaler, vor Kraft strotzender älterer Mann. So stelle ich mir den antiken Göttervater Zeus vor, aktiv, potent, Blitze schleudernd. In der noch nicht vollzogenen Berührung der Hände zeigt sich einerseits Scheu und Zärtlichkeit, andererseits scheint sich die göttliche Hand nicht greifen zu lassen. Sie ist im Vorbeiflug.
Warum fasziniert dieser Augenblick? Holt er Fragen zurück, die wir längst abgehakt haben? Erinnert er an Bedürfnisse, die wir gerne verleugnen? Etwa die Frage woher die Menschen kommen, warum sie entstanden sind, ob eine höhere Macht die Hand im Spiel hatte? Oder ist es das Bedürfnis nach Führung in einer chaotischen Welt? Nach einer Hand, die sich väterlich entgegenstreckt? Der Wunsch, nicht allein zu sein? Oder der viel umfassendere Wunsch nach Erlösung?
Das Bild Michelangelos hat die Räume der päpstlichen Kapelle längst verlassen und trägt in weit größere Räume die Botschaft weiter: Du bist nicht allein. Der Gott der Schöpfung ist da!


https://www.kirche-im-swr.de/?m=7441
weiterlesen...