Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Gnade. Der gnädige Gott. Für den christlichen Glauben, für die Theologie und die Predigt ist der Begriff Gnade unverzichtbar geworden. Im Neuen Testament ist „charis“ das ursprünglich griechische Wort für „Gnade“. Aber gerade dieser so wichtige Begriff kommt in der Verkündigung Jesu – so weit wir wissen – nicht vor. Warum gebraucht Jesus dieses Wort nicht? – Vielleicht deshalb, weil Gnade dem Verhältnis zwischen einem Mächtigen und einem Abhängigen entspricht? Jesus aber die Beziehung zwischen Gott und Mensch als Liebesverhältnis, als Vertrauensverhältnis ansieht? Gnade ist in seiner Bedeutung – und da unterscheidet sich die weltliche Bedeutung nicht von der religiösen - die Gunst eines Höhergestellten gegenüber einem Niedrigergestellten, gleich ob dieser ein Besiegter, ein Verurteilter oder irgendein Untergebener ist. Er ist darauf angewiesen, dass sich der Sieger, der Richter, der Herr huldvoll-wohlwollend zu ihm herablässt. Und dieser freut sich, wenn er noch mal gnädig davongekommen ist. Der kleine Mensch ist auf Gnade und Barmherzigkeit angewiesen. So ganz im Stil mittelalterlich- feudalen Verhaltens. Ob weltlich oder religiös, eine solche Vorstellung ist vorgestrig, herablassend und gönnerhaft: Du tust mir ja so leid, dass du so anders bist als ich, so schwach und anfällig, so hilflos und niedrig. Man könnte fast eine Art versteckte Schadenfreude vermuten. Moderne Menschen lehnen solche Vorstellungen ab. Das widerspricht dem heutigen Verständnis von Menschsein und Menschenwürde. Nochmals: Jesus gebraucht das Wort Gnade nicht. Er wusste um die missbräuchliche Verwendung. Gnädig sein bedeutet für ihn nach guter jüdischer Tradition „mitfühlen“: Sich auf eine Ebene mit jemandem stellen, das Leiden eines anderen zum eigenen zu machen, mit anderen trauern, sich mit ihnen freuen. Mitfühlen: Das solidarische Gefühl, verbunden zu sein, zusammenzugehören, hilfreich zur Seite zu stehen. So sieht Jesus seinen Gott. So will er auch die Menschen sehen. Entsprechend sein Appell: „Seid mitfühlend, wie auch Gott, euer Vater, mitfühlend ist!“ (Lukas 6,36) https://www.kirche-im-swr.de/?m=729
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