SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Gesund und leistungsstark wollen wir sein. Was aber ist, wenn wir nicht mehr so können, wie wir wollen. Wenn nicht nur die Kräfte schwinden, sondern auch die Wahrnehmung nachlässt und sich Desorientierung einstellt?

Teil I

Meine Mutter wurde fast 87 Jahre alt. Als sie – ein paar Jahre vor ihrem Tod – in ein Se-niorenheim gezogen war, rief ich sie an. „Sag mal, wie geht es dir da?“ fragte ich sie. „Ach gut, nur Wolfram hat mich nicht angerufen“. Wolfram, das ist ihr Mann, mein Vater, der damals schon fast zwanzig Jahre tot war. So sagte ich: „Mutti, du erinnerst dich, der lebt doch schon lange nicht mehr“. Darauf antwortete sie: „Ja, ich weiß, aber wenigstens anrufen hätte er können“. Irgendwie hat meine Mutter schließlich gemerkt, was los ist, und dann haben wir beide herzhaft gelacht. Am Anfang dachte sie: „Hoffentlich merkt es keiner“. Am Schluss sehen es nur noch die anderen: Wahrnehmungsstörungen, Desorien-tierung und Persönlichkeitsveränderungen. Viele von Ihnen werden das auch schon erlebt haben – bei der Mutter, beim Vater, vielleicht sogar beim Ehepartner: wenn die Erinne-rung sich langsam auflöst und nach und nach die Orientierung verloren geht.

Demenz ist ein schleichender Prozess, der mit kleinen Gedächtnisstörungen beginnt – und in der Folge kommt es erst zu geistigem und dann zu körperlichem Abbau. Voraus-sichtlich jeder Zehnte über 65 Jahre wird irgendwann an Demenz erkranken. Heute sind es in Deutschland etwa eine Million Menschen. Häufig leisten Familien großartige Betreu-ungsarbeit – voller Aufopferung, nicht selten überfordert.

Immer ist man selbst mit betroffen, wenn in der Familie jemand an Demenz erkrankt ist. Es ist schwer, sich abzufinden mit der wachsenden Desorientierung, mit den Persönlich-keitsveränderungen, mit der Hinfälligkeit, vielleicht auch mit den Aggressionsschüben. Das alles tut unendlich weh. Die Würde des Betroffenen zu achten, das ist dann manch-mal nicht einfach. Bisweilen scheint einem der vertraute Mensch ganz fremd.

Ich finde, hier gewinnt das vierte Gebot ungeahnte, ja auch dramatische Aktualität: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir’s wohlgehe und du lange lebest auf Erden“. Das bedeutet: Du bist verantwortlich. Flüchte nicht, sondern halte stand, auch wenn es weh tut. Dieser Mensch ist und bleibt deine Mutter – oder dein Vater, oder dein Mann, oder deine Frau. Du kennst seine Geschichte.

Dableiben und Standhalten kostet viel Kraft. Deswegen ist Fürsorge so wichtig, nicht nur für die Betroffenen, auch für die Angehörigen. Dabei denke ich an die Kirchengemeinden und die Altenpflegeeinrichtungen, die in Fürsorge, Beratung und Begleitung vorbildlich sind. Es gibt immer mehr Einrichtungen, wo Demenzkranke über Tag betreut werden. Hier wird zum Beispiel das Langzeitgedächtnis trainiert: durch Schwarzweißfotografien von früher, durch Küchenutensilien aus alter Zeit oder durch Musik, die Erinnerungen weckt. Oft blühen die Kranken dadurch richtiggehend auf. Und sie fühlen sich angenom-men und aufgehoben.

Teil II

„An ihrer Seite“ heißt ein Film, der sehr einfühlsam das Schicksal einer Demenzkranken beschreibt. Er erzählt von der 63-jährigen Fiona Andersson, die an Alzheimer erkrankt ist. 44 Jahre ist sie mit ihrem Mann verheiratet – was aber bleibt von der Liebe, wenn die Erinnerung daran schwindet? Fiona Andersson sagt: „Mich plagt das Gefühl, irgendetwas Wichtiges vergessen zu haben, aber ich kann mich nicht erinnern. So verbringe ich halbe Tage damit herauszufinden, was so wichtig gewesen ist“. Genau das ist das Quälende an dieser Krankheit. Man spürt, dass etwas verloren geht – möglicherweise gerade das, was man am anderen so geschätzt hat. Das macht die Betroffenen so traurig und hilflos. Um-so mehr gehört Humor dazu, um alles zu tragen und zu ertragen.

Hollywood nimmt sich mit dem Film „An ihrer Seite“ eines Themas an, das aus der Tabu-zone heraus muss. Wir wissen ja aus vielen persönlichen Begegnungen, dass es hochak-tuell ist: die verwirrte Mutter, die vergessliche Tante, der mürrische Großvater – und die vielen, die es vielleicht noch nicht wahrhaben wollen. Der Film zeigt auch: In Wut und Trauer brauchen wir Halt.

Christlicher Glaube hat es von Anbeginn zu tun mit Schmerz und Leiden. Darin ist unser Glaube sehr realistisch, weil er deutlich macht, dass wir das Leiden nicht entsorgen kön-nen. Und dass es ein Leben ohne Schmerz und Leiden nicht gibt. Aber darin sind wir nicht allein. Die Bibel berichtet uns: Gott wird Mensch und kommt in die Welt ohnmächtig und schwach. Und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. Gott kommt in aller Schwachheit, um bei uns zu sein in unserer Schwachheit. Er hat die Schwachen und Kranken nicht abgeschrieben, sondern ist ihnen ganz nahe. Ja, sie sind seine Lieblinge, hat einer mal gesagt. Sie wollen durch uns spüren, dass Gott sie nicht aufgibt, sondern dass sie in seiner Liebe geborgen sind.

Schwach sein und Schwäche zeigen – das kratzt natürlich an unseren Lebensvorstellun-gen. Jung und unabhängig wollen wir sein, autonom, selbstbestimmt, selbstverantwort-lich und vor allem erfolgreich und leistungsstark. So beurteilen wir gerne auch die ande-ren. Häufig sind wir verliebt in die eigene Allmacht. Was aber ist, wenn wir nicht mehr so können, wie wir wollen? Wenn wir uns mit Verlust und der eigenen Endlichkeit auseinan-dersetzen müssen, mit der eigenen Grenze und wachsender Abhängigkeit? Vielleicht müssen wir wieder begreifen, dass weder die Welt noch unser Leben unser Besitz sind.

„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“ – damit wird im Kern die Aufgabe be-schrieben, Werden und Vergehen, also beides in unser Leben zu einzubeziehen. Denn wir leben ja aus der Gewissheit: Wir können nicht tiefer fallen als in die Hände des uns lie-benden Gottes. Keine Krankheit und keine Demenz kann uns davon trennen. Von Gottes Liebe sind wir umstellt und getragen, so oder so, im Leben und im Sterben. Und diese Liebe ist auch tragfähig über den Tod hinaus – weil wir glauben, dass der Tod nicht das letzte Wort hat und wir auch dann von Gottes Liebe getragen sind.

Ich wünsche Ihnen einen guten Sonntag. https://www.kirche-im-swr.de/?m=7118
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