Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Kain und Abel. Das erste Geschwisterpaar in der Bibel. Der erste Geschwisterstreit und die erste Gewalttat. Kain ermordet seinen Bruder Abel, weil Gott Abel anscheinend mehr liebt als Kain. Und als Gott ihn fragt: Kain, wo ist dein Bruder? Da antwortet er: Das weiß ich doch nicht. Soll ich etwa der Hüter meines Bruders sein?
Wie die anderen allerersten biblischen Geschichten, erzählt auch diese Geschichte davon, warum die Welt so ist, wie sie ist und warum wir Menschen so sind, wie wir sind.
Aber ist das unausweichlich? Sind wir Menschen so, dass wir immer wieder unsere Geschwister umbringen müssen?

Die Dichterin Hilde Domin sagt – nein, wir müssen nicht so sein. Als Jüdin sieht sie sich selbst als Tochter Abels. Aber sie sieht sich nicht als ein hilfloses Opfer. Sie weiß: Kain und Abel können nichts mehr füreinander tun. Aber ihre Nachkommen, die können noch etwas bewegen.
Darum sagt Hilde Domin: „Abel steh auf“

Abel steh auf.
Es muss neu gespielt werden.
täglich muss die Antwort noch vor uns sein
die Antwort muss ja sein können
wenn du nicht aufstehst Abel
wie soll die Antwort
die einzig wichtige Antwort sich je verändern
wir können alle Kirchen schließen
und alle Gesetzbücher abschaffen
in allen Sprachen der Erde
wenn du nur aufstehst
und es rückgängig machst
die erste falsche Antwort
auf die einzige Frage
auf die es ankommt
steh auf
damit er es sagen kann
ich bin dein Hüter, Bruder,
wie sollte ich nicht dein Hüter sein…“

So sieht es Hilde Domin. Gerade auch die Opfer können etwas tun. Sie können aufstehen. Sie können sich als Gesprächspartner zur Verfügung stellen. Damit die Geschichte anders werden kann.

Im Blick auf die Gedenktage des Novembers ist mir dieser Gedanke von Hilde Domin wichtig geworden.
Und darum finde ich: Gedenken allein reicht nicht. Kriegsopfer, Kriegstäter und ihre Nachfahren, sie müssen auf Augenhöhe kommen - überall auf der Welt-, damit sich etwas ändern kann. Beide müssen miteinander reden und sich erzählen von ihrer Angst, ihrem Schmerz und ihren Hoffnungen. Ich bin überzeugt, dass diese Versöhnungsarbeit im gemeinsamen Gespräch viel mehr bewirkt als öffentliche Gedenkreden es können.
Hilde Domin sagt: Ich fühle mich auf der Seite der Opfer. Doch ich bin bereit, den ersten Schritt zu tun und das Gespräch zu suchen.
Damit wir irgendwann, wenn wir einander wirklich brauchen, beide die einzig richtige Antwort geben:
Ich bin dein Hüter. Wie sollte ich nicht der Hüter meiner Geschwister sein?
https://www.kirche-im-swr.de/?m=7110
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