Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Meine Tante ist 80. Aber zum Seniorenkreis ihrer Gemeinde geht sie nicht.
„Da sind doch lauter alte Leute“, sagt sie. Sie findet einfach nicht, dass sie mit ihren 8o zu den Alten gehört. Sie fühlt sich überhaupt nicht alt. Alter – das schmeckt für sie nach dem Verlust ihrer Selbständigkeit, nach Einsamkeit und Krankheit, nach Verwirrung und Bettlägerigkeit. Das trifft alles auf sie nicht zu. Darum ist sie auch nicht alt, nach ihrer Meinung.
Wenn ich recht überlege, geht es mir ganz ähnlich. Ich bin zwar noch nicht 8o. Aber ich sehe meine grauen Haare und die Falten im Gesicht und ich denke, jetzt ist es bald soweit. Jetzt wirst Du langsam alt. Leider kenne kaum jemanden, der wirklich stolz darauf ist, zu den Älteren oder den Alten zu gehören. Aber ich wünsche mir, dass ich mich auf mein Alter genau so freuen kann, wie auf jeden Lebensabschnitt davor auch. Weil noch etwas wirklich Wichtiges geschehen wird. Weil noch etwas Neues vor mir liegt, das es wert ist, es zu erleben.
In der Bibel heißt es: “Eure Alten sollen Träume haben“( Joel 3,1 u. Apg 2,17). Das würde ich gerne wissen von den Alten: Was sind Eure Träume? Wie wollt Ihr leben? Und wie können wir Jüngeren Euer Wissen und Eure Erfahrung nutzen?
Der Traum meiner 80jährigen Tante ist: alle Freiheiten, die sie jetzt im Alter hat, voll nutzen. Sie muss kein Geld mehr verdienen. Sie braucht keine Kinder mehr zu erziehen. Sie ist niemandem mehr verpflichtet. Jetzt im Alter kann sie tun, was sie will und was sie wichtig findet. Und das koste sie aus, denn jetzt hat sie endlich Zeit dazu.
Darum geht sie auch lieber zu ihrer jungen Nachbarin als zum Kaffeetrinken. Denn die lebt alleine mit ihrem Kind und braucht dringend jemanden, der sie unterstützt. Meine Tante macht das gerne. Nicht weil sie muss, sondern weil sie will. Weil sie es wichtig findet, dass die Menschen in der Nachbarschaft einander unterstützen. Meine Tante nimmt sich die Freiheit, ihren Traum zu leben: den Traum von Menschen, die einander helfen und beistehen Und wem geholfen wurde, der ist auch gerne selbst bereit zu helfen. Und so entsteht ein tragfähiges soziales Netz, aus dem niemand mehr so schnell heraus fällt.
Auf diesen Traum ist meine alte Tante stolz und dazu steht sie auch mit erhobenem Kopf.
Das Alter als eine Zeit neuer Freiheiten – das könnte auch mein Traum vom Alter werden. Und ich bin froh darüber, dass es heute schon Seniorinnen und Senioren gibt, die uns Jüngeren diesen Traum vorleben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=7108
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