Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Warum feiern wir eigentlich nicht heute, am 9. November, unseren deutschen Nationalfeiertag?
Es war doch der 9. November und nicht der 3. Oktober, als vor 20 Jahren die Mauer in den Osten Berlins geöffnet wurde. Was unmöglich schien, wurde am 9. November 1989 Wirklichkeit: Deutschland war wieder vereint.
Ich finde, diesen 9.November hätte man als besonderen Tag würdigen sollen. Und damit auch den Mut all der Frauen und Männer, die damals in der ehemaligen DDR für ihre Freiheit auf die Straße gegangen waren.
Diese Menschen damals haben die erste friedliche Revolution auf deutschem Boden möglich gemacht. Viele von ihnen waren Christen und zu ihrer festen Überzeugung gehörte es, dass das wirklich möglich ist, was in der Bibel steht: dass Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden können und dass Friedenskräfte letztendlich stärker sind als staatliche Gewalt. Mit dieser Überzeugung haben sie eine Diktatur beendet, ohne selbst Gewalt anzuwenden. Ich meine, auf das, was diese Menschen damals vor 20 Jahren gewagt und erreicht haben, darauf können wir immer noch stolz sein.
Darum: Der 9.November wäre Anlass für einen Nationalfeiertag. Stattdessen wurde es der 3. Oktober. Der Tag, an dem 1990 die 5 neuen Länder dem Gebiet der alten Bundesrepublik beitraten.
Natürlich wäre der 9. November als deutscher Nationalfeiertag auch höchst problematisch. Denn er ist ja auch der Gedenktag an misshandelte und gedemütigte Menschen und brennende Synagogen im nationalsozialistischen Deutschland. An diesem Tag begann 1938 in Deutschland offenkundig die systematische Verfolgung und Vernichtung des jüdischen Volkes.
Am 9. November vor 20 Jahren: Mut und die Kraft zu einer friedlichen Revolution ohne Gewalt.
Und vor 50 Jahre : Zerstörung und Schläge gegen jüdische Mitbürger. Und viele Menschen waren zu ängstlich und zu feige, ihren jüdischen Nachbarn beizustehen und für sie einzutreten.
Beides am selben Jahrestag und im selben Land.
Das eine, ein Grund stolz zu sein. Das andere, ein Grund zur Scham bis heute.
Ich frage mich, warum das nicht möglich sein sollte, an beides zu denken an einem nationalen Feiertag. An die Freude über das wiedervereinte Deutschland und an die die Fehler und die Schuld Vergangenheit?
Sicher, mit Glanz und Gloria könnte man so einen Feiertag dann nicht begehen. Dafür aber mit einer gewissen Demut, die sich beides zur Lehre nimmt:
den großen Erfolg und das große Versagen in der deutschen Geschichte.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=7105
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