Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Manchmal können Erinnerungen gewaltig täuschen.
Das habe ich gemerkt, als ich mir neulich mit meiner Familie unsere Urlaubsfotos angeschaut habe. Letztes Wochenende war es endlich soweit: Große Urlaubsdiashow im Wohnzimmer und - die kollektive Wehmut machte sich breit: Wie schön war doch unser Urlaub, wären wir doch immer noch dort, und nächstes Jahr – gar keine Frage – fahren wir wieder hin.

Es war traumhaft, die Bilder waren der Beweis. Wirklich? Was auf den Dias nicht zu sehen war: Der Magen-Darm-Infekt meines Sohnes, die unappetitlichen Campingtoiletten, die drückende Hitze, der man nirgends entkommen konnte, die Ameisen in unserem Zelt, zehn neue Schnakenstiche täglich und unsere Schwüre, dass wir niemals mehr campen gehen.

Ich glaube, dass die Erinnerung von uns Menschen oft ähnlich funktioniert wie so eine Diashow: Es bleiben vor allem die schönen Bilder und alle negativen Erfahrungen verschwinden in der Vergessenheit. Ganz besonders dann, wenn die Gegenwart nicht rosig ist, steigen in unserer Erinnerung die wunderbaren Blüten der Vergangenheit hoch.

Das ging schon in biblischer Zeit dem Volk Israel so. Da waren sie Sklaven in Ägypten. Dann kam die ersehnte Befreiung. Aber welche Bilder von Ägypten blieben in den Köpfen hängen? Nicht das Schuften für nichts, nicht die Schläge der Aufseher, sondern – man glaubt es kaum – auf den Dias im Kopf der Israeliten waren die Fleischtöpfe zu sehen, die ihnen ihre Unterdrücker hinstellten, damit sie Kraft zum Steineschleppen hatten. „Ach, war das damals toll!“ Der Weg in die Freiheit war mühsam. Angesichts der faden Nahrung auf ihrem Weg durch die Wüste kam den Israeliten die Sklaverei in Ägypten wie das Schlaraffenland vor.

Das macht mich misstrauisch. Offenbar kann und sollte ich meinen Erinnerungen nicht ohne weiteres über den Weg trauen. Anscheinend muss man jeden Früher-war-alles-besser-Gedanken sehr kritisch unter die Lupe nehmen. Oder noch besser: Gar nicht so sehr an der ach so schönen Vergangenheit hängen, sondern viel mehr in der Gegenwart leben.

Am allerbesten wäre allerdings, daran zu denken, dass das, was ich heute erlebe, die glorreiche Vergangenheit von morgen ist. Denn es ist doch viel klüger, wenn ich das Schöne jetzt schon sehe und dankbar dafür bin, als morgen traurig darüber zu sein, dass ich es nicht mehr habe.
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