Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Guten Morgen,
Ein Betrunkener wankt spät in der Nacht durch die Straßen, tastend von einem Alleebaum zum anderen. Schließlich trifft er auf eine Wand. Fein - sie wird ihn ein schönes Stück weiterbringen. Er darf nur den Kontakt mit ihr nicht wieder verlieren. Und so tappt er mit beiden Händen dahin. Immer an der Wand entlang ...
Was er nicht weiß: Die Wand ist eine Litfasssäule. Die umwandert er. Vertrauensvoll. Endlos.
Irgendwann merkt er, dass er im Kreis geht. Ein gequälter Seufzer entringt sich seiner Brust: „Mist, eingemauert!“
Als ich die Geschichte hörte, musste ich schmunzeln. Er hat sich doch selbst diesen Halt ausgesucht und bräuchte nur los lassen. Schon könnte er sich frei bewegen ... und ausgerechnet ihm entfährt dieses „Mist, eingemauert!“
Doch schnell vergeht mir mein Schmunzeln. Zutreffend wird hier ja beschrieben, was auch ich kenne: wie ich mich, obwohl frei, dennoch als gefangen – ja geradezu als eingemauert fühlen kann. Weil ich mich gebunden und verlaufen habe. Weil ich in eine Sackgasse geraten bin, aus der ich nicht wieder raus finde.
Das muss nicht nur der Alkohol bzw. die Litfasssäule sein. Es können auch Gewohnheiten sein und Beziehungen, Freundschaften und immer gleich Ängste, die mich binden und einengen, die mich – vielleicht ohne dass ich es merke - im Kreis laufen lassen und mir nicht selten das Gefühl geben, eingemauert zu sein.
In den Psalmen, dem alten Gebetbuch von Juden und Christen, kommen vielfältigste Erfahrungen zur Sprache. Auch Klagen, Rufen, bis hin zu Schreien aus Todesängsten, wo Menschen weder ein noch aus wissen.
Beeindruckend an diesen Gebeten ist aber, dass solche beklemmenden Erfahrungen niemals das letzte Wort behalten:
„Du stellst meine Füße auf weiten Raum“, bekennt ein Beter, der gerade noch die Not der Enge beklagt hat.
Oder: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“, bekennt ein anderer, der verfolgt wird und keinen Ausweg mehr sehen konnte. ‚Mir selbst wird die Welt eng und klein. Mit Dir aber – mein Gott - wird sie weit und ein neuer Horizont tut sich auf.“
Ich liebe diese alten Gebete. Nicht nur weil sie ehrlich sind und auch Ausweglosigkeiten zugeben, sondern vor allen Dingen, weil sie mir den Gott zeigen, der Auswege zeigt. Weg von der Mauer - hin zu neuen Lebensräumen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=6715
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