Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Wie lange dauert es, bis Fremde heimisch werden in einem neuen Land? 10 Jahre, 20 oder 30? Eine Generation, zwei oder drei? Wer selbst schon einmal in fremdem Land gelebt hat, der weiß, wie das ist. Man kann nicht einfach aufgeben, was einen geprägt hat: die Sprache, die Religion, die Kultur. Und viele wollen es auch nicht. Ein bisschen Heimat im fremden Land – das tut doch gut. Aber natürlich: damit bleibt dann auch all das lebendig, was einen von denen trennt, die vor einem da waren.
Was helfen kann bei dem mühsamen Prozess heimisch zu werden, das habe ich bei einem Ausflug in den Kraichgau begriffen. Dort gibt es das kleine Dörfchen Sengach, eine ehemalige Waldensersiedlung. Heute ist das ein Ortsteil von Enzberg. 1699 haben sich dort Waldenser angesiedelt. Waldenser, das waren französischsprachige Protestanten in den Alpen. 1699 wurden sie wegen ihres Glaubens vertrieben und kamen nach Württemberg. Dort fühlte man sich zur Solidarität mit den Glaubensflüchtlingen verpflichtet. Hatte nicht Jesus gesagt: Wer einen Fremden aufnimmt, der nimmt mich auf? (Mt 25, 35)
Trotzdem waren die Waldenser in Württemberg nicht nur gern gesehen, denn mit französischen Soldaten hatte man in den Erbfolgekriegen schlimme Erfahrungen gemacht. Andererseits war das Land durch die vielen Kriege entvölkert, Gehöfte standen leer, das Land verödete. Man brauchte Menschen, die beim Wiederaufbau halfen. Deshalb gab man den Waldensern dann eben doch Land, das sie bebauen konnten und Steuererleichterungen, damit ihnen der Anfang gelingen konnte.
Vielleicht ist das der Punkt, habe ich gedacht, als ich das gehört habe: trotz allen Misstrauens war es im Grunde eine win-win-Situation. Man brauchte einander. Fremde und Einheimische haben getan, was sie konnten, damit man dort im Kraichgau miteinander gut leben konnte. Und jeder hat vom anderen profitiert. Das half den Fremden, heimisch zu werden. Und es half den Einheimischen, die Fremden zu akzeptieren.
Trotzdem gab es erst nach 60 Jahren die erste Hochzeit zwischen einer Waldenserin und einem Einheimischen. Nach hundert Jahren vereinbarte man eine gemeinsame Schule mit deutschsprachigem Unterricht. Und nach 120 Jahren hatte man dann auch eine gemeinsame Kirche. Heute gibt es nur noch ein paar Familiennamen, die französisch klingen und direkt an die Waldenser erinnern.
Auch heute leben Menschen mit fremder Herkunft unter uns. Ich glaube wir könnten gut miteinander leben in unseren Dörfern und Städten, wenn wir gemeinsam daran arbeiten. Dann merken wir Einheimischen, wie wichtig die Fremden für uns sind. Und die Fremden können heimisch werden. Hoffentlich dauert das nicht ganz so lange, wie bei den Waldensern.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=6583
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