Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Mit der Wahrheit ist es kompliziert. Sie kann alles kaputt machen und zerstören, wenn man sie einem anderen wie einen nassen Lappen um die Ohren schlägt. Manchmal wird sie auch so eingesetzt: zerstörerisch. „So, jetzt hab ich ihm endlich mal die Wahrheit gesagt!“ – und man kann raushören: das sollte ihn treffen und wehtun. Und es hat ihn getroffen und wehgetan. Aber nicht die Wahrheit sagen, lügen, kann auch alles kaputt machen und zerstören. Wenn man belogen worden ist – dann ist das Vertrauen zerstört, dann kann man nicht mehr unbeschwert zusammen leben und arbeiten.
Wie also umgehen mit der Wahrheit? Muss man in jedem Fall die Wahrheit sagen, damit das Vertrauen erhalten bleibt? Oder ist es besser, in gewissen Fällen nicht die Wahrheit zu sagen, weil das Leben dann leichter wird? Meistens allerdings nur kurzfristig, das muss man wohl gleich dazu sagen. Denn Lügen haben kurze Beine. Wenn die Lüge auffliegt, dann ist alles viel schlimmer. Und vorher kann einen die Angst verrückt machen, dass sie auffliegen könnte.
Anscheinend muss man gut überlegen, wie man mit der Wahrheit umgeht. Eine Frau hat mir erzählt, wie sie das gemacht hat. Das hat mir eingeleuchtet. „Wir haben meiner alten Mutter erzählt, dass sie bald sterben wird. Höchstens noch ein paar Monate, hatten die Ärzte gesagt. Das war gut für sie, da konnte sie noch von allem Abschied nehmen. Aber dass mein Mann ausgezogen ist und wir uns scheiden lassen wollen, hat die Frau dann auch gesagt: das haben wir Mutter nicht mehr erzählt. Sie hätte sich so viel Sorgen gemacht und sicher nicht so ruhig gehen können.“
Ich fand das ganz einleuchtend. „Die Wahrheit wird euch frei machen“ – hat Jesus gesagt. Was einen bloß bedrückt und einem Angst macht – das ist vielleicht richtig. Die Wahrheit ist es nicht. Noch nicht, vielleicht. Manchmal kommt es auf den Zeitpunkt an. Wenn die Mutter noch einmal gesund geworden wäre – dann hätte man es ihr sagen müssen, finde ich. Sonst wäre ein freier Umgang miteinander ja nicht mehr möglich gewesen.
Dietrich Bonhoeffer hat einen Aufsatz geschrieben mit der Überschrift: „Was heißt, die Wahrheit sagen?“ Darin hat er 1944, als es gefährlich war, die Wahrheit zu sagen, geschrieben: „Die Wahrheit sagen hat seinen Ort, seine Zeit, seinen Auftrag und damit auch seine Grenzen.“ Anscheinend kann man nicht einfach ja sagen oder nein, wenn man sich fragt, ob man die Wahrheit sagen soll. Wahrheit zerstört nicht. Wahrheit hilft, neu aufzubauen. Denn sie macht frei. Und wer frei ist, kann neu anfangen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=6303
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