Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Es gibt Menschen, bei denen ist das Wort "Mitleid" verpönt. "Mitleid, das ist doch so etwas von oben herab,"
sagen sie. 'Wer Mitleid mit jemandem hat, der begegnet dem anderen nicht auf Augenhöhe, sondern sieht sich oben und den anderen als armen Hilfsbedürftigen.' Meinen manche.
Ich finde, das ist falsch. Echtes Mitleid ist alles andere als von oben herab. Anders herum wird ein Schuh daraus: Verweigertes Mitleid, das ist von oben herab. Wieso? Vielleicht macht die folgende kleine Begebenheit deutlich, wie ich darauf komme.
Eine Gruppe von Touristen hat sich zusammengefunden zu einer Bergwanderung durch zT ziemlich unwegsames Gelände. Einen ganzen Tag lang soll es gehen, zT durch dichtes Gestrüpp und über nicht ausgezeichnete Wege. Zwei kundige Einheimische führen die Gruppe. Der eine geht voraus, der andere bildet den Schluss, damit niemand aus der Gruppe verloren geht. Und dann passiert es doch. Irgendwann fällt es einer Frau auf: Wir sind doch einer zu wenig. Und tatsächlich: Zwei Männer waren zurückgeblieben, um Fotos zu machen. Aber nur einer hat den Anschluss an die Gruppe wiedergefunden. Der andere bleibt verschwunden. "Haben Sie nicht gemerkt, dass der andere nicht mehr bei Ihnen war?" "Ich bin doch nicht im Urlaub, um auf andere Leute auf zu passen," meint der lapidar. Zum Glück hat man den Verlorenen wieder gefunden.
Nervlich angeknackst und ein wenig zerschunden.
"Ich bin doch nicht im Urlaub, um auf andere Leute aufzupassen." Das ist für mich von oben herab.
Aufpassen, das hat keiner erwartet. Augen füreinander haben, das ist es. Und das ist was ganz anderes als aufpassen. Einen anderen sehen. Und wenn er in Schwierigkeiten kommt, spüren wie es einem selber gehen würde, wenn man an dessen Stelle wäre. Das ist Mitleid.
Wie in der klassischen Geschichte vom barmherzigen Samariter, die Jesus erzählt. Da liegt einer am Wegrand. Halb tot geschlagen. Zwei Leute gehen vorbei, haben keine Augen für ihn. Der dritte: sieht hin und der Verletzte jammerte ihn, erzählt Jesus. Er leistet Erste Hilfe, bringt ihn in Sicherheit und bezahlt für die Pflege. In der Bibel steht dann, "er jammerte ihn“. Das ist kein Mitgefühl von oben herab. Ganz im Gegenteil: Er spürt die Schmerzen des anderen als wären es seine eigenen. Dazu muss man auf wirkliche Augenhöhe. Das ist Mitleid, praktisches Mitgefühl. Wenn ich fremde Schmerzen spüre, als hätte ich sie. Da kann man nicht anders, als was unternehmen. "Liebe Deinen Nächsten als dich selbst", gibt Jesus mir mit.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=6229
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