Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Zum Reden ist es nie zu spät. Fast nie. Nur wenn man nicht redet, dann könnte es irgendwann zu spät sein für
eine Beziehung. Zwischen Partnern. Zwischen großen Kindern und den alt gewordenen Eltern. Zwischen erwachsenen Geschwistern. Damit es nicht zu spät ist, muss einer anfangen zu reden. Darüber was man alles mit sich herumträgt. Manchmal, ohne dass der andere davon weiß.
Ein Freund hat mir erzählt, wie es in seiner Familie war:
Da sitzen alle zusammen am Sonntagnachmittag. Man redet beim Kaffee über dies und das. Einer bringt alte Schulerlebnisse aufs Tapet. Und da platzt es aus dem Sohn meines Freundes heraus. „Das trag ich immer noch mit mir herum wie ein Trauma, dass Du damals beim Abi zu mir gesagt: Für Deine Mathenoten, da musst Du Dich aber schämen.“ Alle am Tisch spüren. Hoppla, das ist nicht mehr harmlos. Das ist Ernst. Betreten schaut man zwischen Sohn und Vater hin und her.
„Was soll ich gesagt haben? Du sollst Dich wegen Deiner Mathenoten schämen. Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, dass ich so was gesagt haben soll. Und wenn, dann habe ich es doch nicht ernst gemeint. Ich war doch stolz auf Dich.“ „Du hast das gesagt“ erwidert der Sohn, „und es hat mich tief getroffen. Du hast doch gewusst, wie schwer mir Mathe gefallen ist. Ich war so froh, dass ich überhaupt die paar Punkte geschafft hab. Und dann
das. Das tut mir heute noch weh- 10 Jahre danach.“
Und mein Freund, der Vater, schwört immer noch Stein und Bein, dass er nichts dergleichen gesagt hat.
Wie kommt man weiter in so einer Situation?
Ich glaube, zuerst kann man in einer Familie froh sein, wenn Dinge zur Sprache kommen, die lange zugedeckt waren. Besser nach 10 Jahren als nie. Und wenn es noch länger dauert. Besser ein Vater klärt als alter Mann mit seinen Kindern, was war, als dass er es mit ins Grab nimmt.
Vielleicht ist es auch besser, dass wir einander fragen, ob wir etwas mit uns schleppen als zu warten, bis es aus einem heraus bricht. Irgendwas ist doch bei fast jedem. Wenn es dann raus ist, darf man kein Gras drüber
wachsen lassen, sondern muss dran.
Bei solchen Geschichten wie zwischen dem Vater und dem Sohn hilft es nicht, aufzuklären, wer jetzt recht hat. Wenn einer verletzt wurde, dann hilft nur, wenn man sich über der Wunde versöhnt. Auch wenn sie ungewollt entstanden ist. Vielleicht kann der Vater seinen Sohn um Verzeihung bitten. Damit der Sohn vergeben und die Wunde sich schließen kann. Zum versöhnen ist es nie zu spät. Fast nie. https://www.kirche-im-swr.de/?m=6228
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