Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Die Würfel sind längst gefallen. Schon seit mehreren Wochen wissen alle Kinder einer vierten Klasse, in welcher Schulart es für sie weitergeht.
Das Gymnasium ist das Ziel von Eltern und Kindern. Wer das nicht schafft, wurde hoffentlich für die Realschule empfohlen. Und wenn nicht? Ich erlebe Kinder, die deshalb weinen. Sie wollen doch auch zu den Besten gehören. Und ich erlebe Kinder, die sich schämen. Hauptschüler will keiner sein! Die werden selbst im öffentlich rechtlichen Fernsehen als „Rest der Gesellschaft“ bezeichnet. Hauptschüler sind dumm, passen nirgends hin in unserer Leistungsgesellschaft, können nicht mithalten, werden nicht gebraucht, stören nur. Der Hauptschule deshalb einen anderen Namen zu geben ist keine Lösung. Werkrealschule klingt besser, verändert die Situation aber nicht.
Tatsächlich bemühen sich viele der Jugendlichen erfolglos um eine Ausbildung, um einen angemessenen Platz in der Gesellschaft, um Arbeit, mit der sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können.
Als Lehrerin in einer Grund- und Hauptschule beschäftigen mich die Kinder und Jugendlichen, die das Gefühl haben, sich verstecken zu müssen. Von vielen kenne ich ihre Geschichten.
Marcos Mutter z. B. ist abhängig von Alkohol und Tabletten. Freunde kann er nicht mit nach Hause bringen. Sein Schulranzen ist ein einziges Chaos. Hausaufgaben hat er so gut wie nie. Schule ist angesichts dessen, was er täglich besteht, eher Nebensache obwohl er froh ist, hingehen zu können.
Oder Semanta. Sie ist die älteste von fünf Kindern. Ihr Vater ist arbeitslos. Die Mutter seit vielen Jahren schwer krank. Eher zufällig erfahre ich in einem Gespräch von ihr, dass sie den gesamten Haushalt bewältigt und sich um die Hausaufgaben ihrer Geschwister auch noch kümmert. Für sie selbst ist Schule fast Erholung.
Was viele der Kinder und Jugendlichen schon in jungen Jahren leisten, kommt nirgendwo vor. Das lässt sich nicht in Schulnoten ausdrücken und steht in keinem Zeugnis.
Ganz egal, warum Kinder auf der Hauptschule landen. Sei es, weil sie auf Grund ihrer sozialen Herkunft schlechtere Ausgangsbedingungen haben als andere oder weil sie nicht die Form von Intelligenz mitbringen, die unsere Leistungsgesellschaft erwartet. In keinem Fall haben sie es verdient, deshalb abgewertet und gesellschaftlich aufs Abstellgleis geschoben zu werden.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=6203
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