Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Das hab ich in letzter Zeit öfters erlebt: Menschen mit Macht und Einfluss werden, wenn sie in den Ruhestand gehen, nicht mehr mir so viel Respekt behandelt wie vorher. Steht der Nachfolger schon fest oder in den Startlöchern, dann gilt der Chef als „lame Duck“ – als lahme Ente, das heißt, er watschelt handlungsunfähig, da beruflich perspektivlos seiner Pensionierung entgegen, ein Auslaufmodell.
Das ärgert mich, weil da so überdeutlich wird, wie wichtig Positionen Ämter und äußere Macht genommen werden. Viel zu wichtig. Und viel zu wenig der Mensch gesehen wird. Der alte, der erfahrene Mensch.
Die Macher, die Machthaber, die aktiv im Leben stehenden sind wichtig und werden hofiert. Wer alt ist, ist raus aus dem Geschäft, ist out.
In anderen Kulturen ist das anders, besser. Da werden alte Menschen verehrt. Wegen ihrer Lebenserfahrung, wegen ihrer Weisheit.
Ein alter Mann, eine alte Frau sollten wie Kathedralen betrachtet und behandelt werden, hab ich mal gelesen. Ein schönes Bild.
Wie Menschenleben sind Kathedralen gewachsen über Jahre, Jahrzehnte. Und wie eine Kathedrale gewinnt ein Menschenleben mit den Jahren an Bedeutung. Das Alte wird kostbar, weil es gewachsen ist, gereift, weil es Höhen und Tiefen des Lebens erfahren, geborgen und überstanden hat.
Weil in Kathedralen und in Menschenleben die Zeit sichtbar wird und die Zeitlosigkeit von wichtigen Dingen, von inneren Werten.
Natürlich gibt es nicht nur ehrwürdige alte Menschen. Auch Untugenden kommen in die Jahre und manche werden im Alter noch schlimmer. Und auch nicht alle Menschen altern in Würde. Aber trotzdem: allein die Lebenszeit eines Menschen will gewürdigt sein. Die innerliche wie die äußerliche. „Alternde Menschen sind wie Museen“, hat die französische Schauspielerin Jeanne Moreau einmal gesagt. Nicht auf die Fassade komme es an, sondern auf die Schätze im Inneren. Also nicht nur auf die Runzeln schauen, nicht nur auf das schüttere Haar, auf die Hinfälligkeiten und auch nicht nur auf Griesgrämigkeiten oder Bockbeinigkeiten. Sondern auf die Erfahrungen eines Lebens, auf Dinge, die man aus der Distanz eines Lebens lernen kann.
Auf Weisheit schauen, die aus Fehlern kommt, die gemacht oder auch vermieden wurden. In Augen, aus denen eine Güte spricht, die weiß, dass das Leben schön ist, trotz aller Probleme und Nöte. Und schauen auf eine gereifte, tiefe Lebensfreude, die es annimmt, dass das eigene Leben sich dem Ende zuneigt. Aber sich freut, dass das Leben im Leben der anderen weitergeht, immer wieder weiter geht.

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