Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Frank ist 16. Er hat noch ein paar Pickel auf der Nase und die Haare will er wachsen lassen, so dass es bald für einen Pferdeschwanz reicht. Er liebt Rapmusik und Physik und hasst Latein. Und ohne seinen iPod geht er nicht aus dem Haus. Ein Jugendlicher wie viele andere. Mit einer Einschränkung. Frank ist spastisch gelähmt. Sein handicap ist, dass ihn jede Bewegung große Anstrengung kostet, weil seine Muskeln sich dabei verkrampfen. Er kann sich nicht so bewegen wie er es will. Und das stinkt ihm ziemlich. Aber ändern kann es nicht. Darum versucht er damit zu leben. Er weiß mittlerweile, wo seine Begabungen liegen und was ihm Schwierigkeiten macht. Mit dieser Einstellung kommt er eigentlich ganz gut zurecht. Aber manchmal platzt ihm regelrecht der Kragen. So sehr ärgert er sich.
Zum Beispiel kürzlich, bei der Konfirmation seiner Cousine. Mit seinem Elektrorolli fuhr er bis an die Kirchentür. Dann stützte er sich auf seine Schwester, hiefte sich aus dem Rollstuhl und lief die paar Schritte, bis zur nächsten Bank. Nur - in der überfüllten Kirche war eigentlich kein Platz mehr frei. “Meine Schwester“, erzählte er, „hat dann jemanden gebeten, ob er vielleicht etwas rutschen könne, damit ich mich hinsetzen kann. Und wissen Sie, was der geantwortet hat?“ fragt Frank. „Der hat geantwortet: Besoffene haben hier nichts zu suchen!“.
Frank ist stinksauer auf Leute, die einen Menschen mit spastischer Lähmung für betrunken halten. Aber wie mit dieser Wut umgehen?
Frank hat eine bemerkenswerte Lösung gefunden. Irgendwann merkte er: „Der Mann da, der mich für besoffen hielt, der hat mir irgendwie auch leid getan, in seinem Gefängnis.“ Körperlich ist er frei, kann gehen, wohin er will. Aber innerlich, da ist er gefangen. Und zwar in seiner Vorstellung davon, was normal ist und was nicht. Was sich gehört und was nicht. Wie man ist und wie man nicht zu sein hat. Er ist in seiner scheinbaren Normalität gefangen. Weil er es nicht aushält, dass einer sich anders bewegt als er selbst es tut. Seit Frank das so sehen kann, geht es ihm besser, sagt er.
Als er mir die Geschichte erzählt hat, war ich ganz erschrocken. Ich stecke ja manchmal auch in so einem Gefängnis und halte dann nur noch mich selbst für den Normalfall. Und wie leicht stecke ich Menschen, die anders sind als ich, in Schubladen! Auf denen steht dann „nicht normal“ oder „behindert“ oder „krank“. Aber was ist schon normal auf dieser Welt? Doch bestimmt viel mehr als das, was ich mit meinem begrenzten Horizont dafür halte!
https://www.kirche-im-swr.de/?m=5690
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