Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Sie wird bewundert, weil sie so schön ist. Makellos ist ihre Haut. Ihr Busen, jugendlich straff, der Bauch flach, die Hüften wohl geformt. Eine schöne Frau mit einem schönen, kraftvollen, sehr weiblichen Körper.
Wem es nicht genügt, sie sich auf Fotos anzusehen, kann nach Paris in den Louvre fahren und sie dort bewundern. Hier steht sie nämlich auf einem Sockel, viel beachtet und weltberühmt für ihre Schönheit: die Venus von Milo.
Was aber kaum jemandem auffällt – die Venus von Milo ist behindert. Sie hat keine Arme. Und es stört auch niemanden, dass sie keine Arme hat. Im Gegenteil. Die Venus von Milo braucht keine Arme, um schön zu sein.
Aber würden wir ihre Schönheit auch noch sehen, wenn sie in einem Restaurant am Tisch neben uns säße? Und wenn die Venus dann ihre Füße auf den Tisch legen und mit den Zehen den Löffel halten würde? Würden wir die schöne Frau sehen? Oder würden sich andere Eindrücke in den Vordergrund schieben?
Für die Schönheit braucht man offenbar einen Blick. Besonders dann, wenn sie uns im Alltagsleben und nicht im Museum begegnet.
„Schönheit entsteht im Auge des Betrachters“ sagte der schottische Philosoph David Hume. Denn es kommt immer darauf an, was ich sehen kann. Besonders schön finde ich darum die Menschen, die ich liebe. Weil ich für sie einen besonderen Blick habe. Mit diesem Blick sehe ich ihre Schönheit auch hinter Pubertätspickeln, schiefen Zähnen, der Glatze oder den Gichtknoten an den alt gewordenen Händen.
Die biblische Schöpfungsgeschichte erzählt, wie dieser besondere Blick für das Schöne in die Welt kam. Als Gott den Menschen geschaffen hatte, sagte er: „Sehr gut!“ Wunderschön bist du, Mensch, und absolut liebenswert.
Ich glaube, unser Blick für die Schönheit erwacht mit so einer Liebeserklärung. Dass uns jemand schön findet weil er uns liebt und uns das auch sagt. Das macht uns schön, in den Augen des anderen. Aber in unseren eigenen auch.
Wäre sie nicht aus Marmor, ich würde vermuten, bei der körperbehinderten Venus von Milo könnte das genau so gewesen sein. Sie wurde so schön, weil Menschen sie liebten und sie schön fanden. Und weil sie so selbst sehen lernte, was die anderen in ihr sahen – eine wirklich schöne Frau.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=5148
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