Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Ich mache manchmal ein kleines Gedankenspiel: Zuerst stelle ich mir vor, ich erfahre, dass ich demnächst sterben werde. Danach versuche ich mir das Gegenteil vorzustellen: Ich werde niemals sterben. Worüber würde ich mehr erschrecken? Was würde mir mehr Angst machen? Es ist nur ein Gedankenspiel, und ich kann nicht wissen, wie es wäre, wenn Ernst daraus würde. Aber so, wie ich jetzt empfinde, glaube ich fast, die irdische Unsterblichkeit würde mich noch mehr schrecken als die Aussicht, irgendwann zu sterben.
Nicht, dass ich lebensmüde wäre, ganz im Gegenteil, ich lebe richtig gern, meistens jedenfalls. Und doch kann ich mir vorstellen, dass ich irgendwann das Gefühl habe: So langsam ist es eigentlich genug. Je älter ich werde, desto öfter winke ich innerlich ab und denke: das kenne ich doch schon. Wenn ich die Minimode dann zum dritten Mal erlebe, finde ich sie sicher nicht mehr so aufregend wie beim ersten Mal, als ich ein junges Mädchen war und dachte, das sei jetzt der ultimative Fortschritt der Menschheit.
Lebenssatt, so nennt man Menschen, die das Gefühl haben, sie hätten so viel erlebt und ihr Leben sei so reich gewesen, dass sie nicht zu kurz kommen, wenn es irgendwann zu Ende geht. Ich bin gern mit solchen Menschen zusammen, denn oft geht von ihnen eine Gelassenheit aus, die einfach gut tut. Dabei haben sie es meist gar nicht leicht gehabt, wie man vielleicht vermuten könnte. Es ist mehr die Blickrichtung, die sie unterscheidet. Sie können auf das schauen, was sie erreicht haben, was geglückt ist, was noch mal gut gegangen ist, was ihnen erspart wurde, was sie geschenkt bekamen. Das andere, was ihnen versagt geblieben oder misslungen ist, kennen sie natürlich auch, aber es bestimmt nicht das Lebensgefühl.
Mich fasziniert das, und ich wünsche mir im Stillen, dass ich auch mal in diesem Sinn lebenssatt werden kann. Aber mir ist klar, dass das bestimmt nicht einfach so vom Himmel fällt, irgendwann, wenn ich alt sein werde oder wenn mir der Arzt sagt, dass meine Lebenszeit sehr begrenzt ist. Wie alles, was eine Kunst ist, will auch solche Lebenskunst lange gelernt und geübt werden.
Ich kann ja schon mal damit anfangen. Zum Beispiel heute. Zum Beispiel so: Danke, dass ich heute lebe, danke, dass ich nicht allein auf der Welt bin, danke, dass heute für mich gesorgt ist.

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