Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Meine Wohnung ist nach Südosten ausgerichtet, und wenn ich nach dem Aufstehen ins Wohnzimmer trete, dann schaue ich unwillkürlich in den Morgen. Ich weiß inzwischen genau, um welche Jahreszeit die Sonne an welcher Stelle aufgeht: im Winter rechts hinter der Baumgruppe, und wenn der Sommer beginnt genau über dem Dachfirst des Nachbarhauses. An manchen Tagen taucht sie aus dem Horizont auf, dramatisch und schön wie eine Diva die Theaterbühne betritt, an andern Tagen sehe ich nur Wolken oder Nebel, wenn ich nach Osten schaue.
Der Lauf der Sonne hat die Menschen schon immer fasziniert. Genaugenommen ist es ja die Erde, die sich bewegt, aber darauf kommt es nicht an. Die Sonne, die morgens aufgegangen ist, wird am Abend untergehen, so viel ist sicher, auch an den Tagen, wo sonst nicht viel sicher ist.
Die Sonne gibt uns den Takt. Sie ist das große Rhythmusinstrument der Schöpfung. Ohne Sonne keine Tage, keine Jahreszeiten, kein Wachsen, keine Nahrung, kein Leben. In der biblischen Tradition ist die Sonne ein Symbol, ein Zeichen dafür, dass Gott verlässlich ist und gibt, was seine Geschöpfe brauchen. Wenn das ganze Leben ein einziger strukturloser Zeitbrei wäre, wir wären heillos überfordert. Die Stunden, Tage, Monate, Jahre – das ist es, was wir bewältigen können, weil es unserem Maß entspricht.
Eine Freundin von mir beginnt jeden Tag mit einer Meditation über die Sonne, und über den Takt, den sie dem Leben gibt. Darin heißt es:

„Morgen wird die Sonne aufgehen, entweder in ihrem vollen Glanz oder hinter einer Wolkenwand. Aber eines steht fest: sie wird aufgehen. Bis sie aufgeht, sollten wir uns über den morgigen Tag keine Sorgen machen, weil das Morgen noch nicht geboren ist … Jeder Mensch kann nur die Schlacht von einem Tag schlagen. Dass wir zusammenbrechen, geschieht nur, wenn wir die Last dieser zwei fürchterlichen Ewigkeiten zusammen fügen: gestern und morgen. Es ist nicht die Erfahrung von heute, die die Menschen verrückt macht; es ist die Reue und Verbitterung über etwas, das gestern geschehen ist, oder die Furcht vor dem, was das Morgen wieder bringen wird.“
(aus einer Meditation der Anonymen Alkoholiker und anderer Selbsthilfegruppen)

Gut zu wissen, dass die Sonne auch morgen wieder aufgehen wird. Und jetzt ist erst mal heute.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=4875
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