Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Wo andere Urlaub machen, da darfst du leben.“ Viele meiner Freunde sagten das, als ich Mitte der neunziger Jahre als Pfarrer ins oberbayerische Rosenheim ging. Sie dachten dabei vor allem an die Berge: die Nähe zum Wendelsteingebirge und zu den Chiemgauer Alpen. Und in der Tat: Die Bergwelt fasziniert mich bis heute. Jedes Mal, wenn ich in ihr unterwegs bin, ist es, als beträte ich eine andere Welt: die herrlichen Wiesen mit ihren wunderschönen Blumen, rauschende Bäche, liebliche Täler, Kühe mit ihren friedlich klingenden Glocken, da und dort eine einsame Hütte. Wenn nicht gerade Massen unterwegs sind oder ein Treffen von Mountainbikern angesagt ist, spüre ich bei solchen Wanderungen in mir tiefen Frieden und unbeschreibliches Glück. Wohl deshalb liebe ich diesen Gang in die Berge. Nirgends bin ich mehr bei mir als dort. Und nirgends drängt sich mir der Gedanke an Gott stärker auf als in dieser Atmosphäre.

Normalerweise sind es Anlässe wie das tägliche Gebet oder die Feier des Gottesdienstes, die mich an Gott denken lassen. Oder es sind Notzeiten. Doch wenn ich in den Bergen unterwegs bin, kommen mir nicht Bittgebete in den Sinn, sondern Gedanken der Bewunderung und des Staunens.

„In deiner Schöpfung birgt sich dein Gesicht…“, heißt es in einem Lied, das Joachim Vobbe, alt-katholischer Bischof in Deutschland, geschrieben hat. „In stiller Ordnung, die den Kosmos hält, in Pflanze, Tier und Vielfalt dieser Welt. Was du geschaffen hast, verlässt du nicht.“ Sehr schön finde ich in diesem Text zum Ausdruck gebracht, was ich auf meinen Bergwanderungen empfinde. Es erinnert mich an die Begegnung mit einer älteren Ordensfrau, die in ihren Berufsjahren als Kunsterzieherin gearbeitet hat. Mit ihr schaute ich einmal in der Klosterkapelle Bilder eines bekannten Künstlers an. Dabei standen wir nicht unmittelbar vor den Bildern, sondern betrachteten sie von der Empore aus. „Näher kann ich da nicht herantreten“, sagte die Ordensfrau, „sonst werde ich den Bildern nicht gerecht.“

Ich glaube, darum geht’s: Betrachten und Staunenkönnen. Die Schöpfung nicht nur zu gebrauchen, sondern sie als Geschenk, als Lebensraum zu begreifen, als Hinweis auf den Schöpfer, der sie für den Menschen gemacht hat. „Welt ist nicht nur, was Menschenaugen sehn“, dichtet Bischof Vobbe weiter, „und Ordnung mehr, als wir davon verstehn. Anfang und Ziel – dir, Einziger, gehört’s, denn größer bist du, Gott, als unser Herz.“

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