Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Es ist die fünfte Stunde in einer Hauptschule. Marco sitzt in der ersten Reihe und zerlegt einen Plastikkugelschreiber. Dann zerbricht er ihn in unzählige kleine Teile. Stille, eindeutige Aggression. Seinen Blick hält er gesenkt. Ich lasse ihn in Ruhe, reagiere nicht. Marco lebt seit fünf Jahren in Deutschland mit seiner Familie in einem Zimmer im Asylbewerberheim. Status der Familie: Geduldet! Seine Eltern dürfen nicht arbeiten. In die Schule müssen die Kinder auch nicht. Marco kommt trotzdem jeden Tag freiwillig. Er lebt auf der Flucht. Nicht immer ist er sich dessen bewusst. Zwei Tage nach der Szene mit dem Kugelschreiber erzählt mir die Klassenlehrerin, dass Marcos Familie wieder einmal akut damit rechnen muss, in der Nacht abgeholt zu werden. Marco hat es der Schulsozialarbeiterin erzählt.
Es gibt auch in unserem Land unmenschliche Lebensbedingungen. Fünf Jahre ohne Sicherheiten, ein Leben auf dem Sprung ohne Anerkennung, ohne Arbeit und mit sehr wenig Geld, ohne würdigem Dach über dem Kopf und ohne soziale Kontakte. Geduldet eben. Aus politischer Sicht mag es dafür triftige Gründe geben. Ist man wie ich mit dem Einzelschicksal von Marco konfrontiert, spürt man wie erniedrigend und ungerecht es ist, so leben zu müssen. Ich habe längst gelernt, dass ich mit Ungerechtigkeiten leben muss. Dass ich vieles nicht verändern kann, was ich als Jugendliche und junge Frau noch zu verändern hoffte. Als Freundin der christlichen Botschaft sehne ich mich trotzdem danach, bin ich nicht bereit einfach zu resignieren. Ich habe mir den genauen Blick auf ungerechte Strukturen und Einzelschicksale bewahrt. Aufstehen für Gerechtigkeit ist das Konkreteste, das ich im Leben machen kann: in allen Bereichen – in der Arbeitswelt, in Beziehungen, in der Schule und in unserer Gesellschaft, in der wegrationalisiert wird, was sich nicht wehren kann. Manchmal kann ich etwas ändern, etwas verhindern, etwas wieder in Ordnung bringen. Und manchmal kann ich wenigstens „etwas“ entgegensetzen: die Kraft meiner ungeteilten Aufmerksamkeit und meiner Solidarität. Im Fall von Marco war ich nicht alleine. Der Schulleiter setzte sich bei den zuständigen Behörden ein so gut er konnte. Die Klassenkameraden teilten seine Angst, manche weinten und alle hofften mit ihm. In Marcos Gesicht konnten wir alle lesen, wie gut ihm alleine das schon getan hat.
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