SWR4 Abendgedanken
Tante Trude ist schon lange tot. Sie ist vor über 20 Jahre gestorben und meine Erinnerungen an sie sind langsam verblasst. Mit ihr sind wir Kinder aufgewachsen. Sie war die Einzige aus der Großelterngeneration, die damals noch gelebt hat. Vom Kaiser hat sie uns immer erzählt, von den beiden Kriegen und dem Zeppelin. Und dann ist es ein Satz, der die Tante für einen Moment wieder in die Gegenwart holt. Weshalb und wer ihn gesagt hat, davon erzähle ich gleich.
Mein Bruder und ich sind im vergangenen Jahr nach Polen gefahren. Dort hatte die Familie unserer Mutter bis zum zweiten Weltkrieg gelebt – und dazu gehörte auch Tante Trude.
Wir kommen in dem polnischen Dorf an, in dem sie zuletzt zuhause war. Dort begegnen wir der Dorfältesten, Lucy, sie ist fast 100 Jahre alt. Laufen kann sie nicht mehr, sie liegt daheim im Bett, aber der Kopf ist klar und ihre Augen hellwach. Wir haben ein altes Foto mitgebracht. Darauf zu sehen: unsere Oma und ihre beiden Schwestern, eine davon: Tante Trude.
Wir erzählen, warum wir hier sind und dass wir hoffen, jemanden zu finden, der unsere Vorfahren noch gekannt hat. Uns von damals erzählen kann. Wir warten darauf, dass einer der Nachbarn übersetzt, der uns zu Lucy gefahren hat und ein bisschen deutsch kann. Doch das ist nicht notwendig. Lucy spricht Deutsch. „Ja ick bin doch Deutsche!“ sagt sie. Die letzte im Dorf. Das ist unser Glück, denn was dann passiert, ist unglaublich für uns: Lucys Reaktion auf unser Foto hat sich in etwa so angehört:
„Se kommen mir bekannt vor. Aber ick kann mir nich erinnern“. Mein Bruder und ich schauen uns an. Und haben beide sofort denselben Gedanken. Die spricht wie Tante Trude!
Dieses „ick kann mir, ick kann mir nich erinnern“ – das hat die genau so immer gesagt. Mit dieser Grammatik, die in unseren Ohren ein bisschen schräg geklungen hat. Wir hatten keine Ahnung, dass dieser Dialekt oder diese Sprachmelodie ein Zuhause hat. Und jetzt stehen wir da und trauen unseren Ohren kaum. Es ist, als ob Tante Trude an diesem Tag ganz lebendig bei uns ist. Da hatte sie also hingehört.
Wir haben in diesen Tagen in Polen auf eindrückliche Weise erfahren: Heimat sind nicht nur Orte und Landschaften. Heimat ist auch Sprache und Dialekt. Heimat hat eine Melodie, die manchmal noch ein ganzes Jahrhundert nachklingt.
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